Auf dem Experimentier-Feld

Der e-Golf trägt ein Hirschgeweih. So nennen die Forscher von Volkswagen die Konstruktion aus einem Dachgepäckträger und fünf Lidar (light detection and ranging)-Sensoren. Acht weitere befinden sich umlaufend an der Karosserie. Hier, auf dem stark gesicherten Prüfgelände in Ehra-Lessien bei Wolfsburg, zeigen die Wissenschaftler des Konzerns, wie sich die Zukunft vorstellen. Das Morgen und das Übermorgen. Und manches davon ist näher als gedacht: Das praktische Ziel beim e-Golf mit Lidar-System ist die Entwicklung eines Robotertaxis. Es funktioniert bereits – in der konventionellen Hülle des Golfs und auch im Sedric, jener autonom fahrenden Box, die per App gerufen wird, die Passagiere an den gewünschten Ort bringt und ebenfalls in Ehra-Lessien ausprobiert werden kann.

Technisch sind sich der e-Golf mit Hirschgeweih und der Sedric ähnlich. Die Gestalt und das fehlende Lenkrad machen den Unterschied. Es könnte eine gesellschaftlich-kulturelle Revolution auslösen, wenn selbst fahrende Fahrzeuge in Serie gebaut würden. Prognose? Ab 2025, sagt ein Forscher. Wenn der Gesetzgeber es zulässt auch früher, wirft ein anderer ein.

Aus der Vielzahl von Neuigkeiten, die der Volkswagen-Konzern im Rahmen des Future Mobility Days präsentiert, sollen neben Sedric einige besonders prägnante erwähnt werden:

Lebensdauer- und Sicherheitsanalyse von Batteriezellen

So haben die Wissenschaftler ein Rechenmodell entwickelt, um die Alterung von Lithium-Ionen-Batterien zu verstehen und letztlich zu verzögern. In der Simulation können verschiedene Betriebsszenarien nachgestellt werden, um für die Serienanwendung eine entsprechende Schutzstrategie zu erarbeiten. Die wesentlichen Parameter zur Schonung des wertvollen elektrochemischen Speichers sind die Temperatur und das Ladefenster. Die Batterie sollte keinesfalls zu warm werden, und Elektroautobesitzer laden schon heute nur auf 80 Prozent, weil sie wissen, dass sie damit die Lebensdauer erheblich erhöhen. Diese Prozesse zu automatisieren ist ein Zweck des holistischen Rechenmodells.

Batterien spielen in den nächsten Jahren eine zentrale Rolle. Neben der Dauerhaltbarkeit ist die Sicherheit ein Faktor: Volkswagen hat „bei einem chinesischen Zulieferer“ prismatische Zellen eingekauft und gezielt deformiert. Wahrscheinlich handelt es sich beim Zellproduzenten um Contemporary Amperex Technology (CATL). CATL hat letzte Woche verkündet, in Erfurt eine gigantische Batteriezellproduktion aufzubauen. Lieferverträge mit Volkswagen und Daimler bestehen.

Die Forscher, die sich mit diesen Zellen befassen, leben allerdings nicht in der südlichen Heide oder in Thüringen, sondern in Shanghai und Peking. Dass ein Batteriesystem bei einem Crash durch Metallgehäuse gut geschützt ist, liegt auf der Hand. Die Mitarbeiter wollen trotzdem wissen: Wie verhält sich die Zelle, wenn sie aus irgendwelchen Gründen doch zerstört wird – gibt es einen Kurzschluss, falls ja wann, und unter welchen Bedingungen tritt der gefürchtete Thermal Runaway auf, also ein Brand?

E-Mobilität ist selbstverständlich

Überhaupt: Die Elektromobilität ist bei der Zukunftsbetrachtung des Volkswagenkonzerns selbstverständlich. Mit Ausnahme eines Lkw-Kippers, der mit Dieselmotor fährt, hat jedes Versuchsfahrzeug auf dem Testgelände zumindest einen teilelektrischen Antrieb. Das wird kaum erwähnt, weil es so normal ist. Man macht sich allerdings in detaillierten Rechenmodellen Gedanken darüber, unter welchen Umständen welcher Antrieb die geringsten CO2-Emissionen hat.

Die Lebenszyklusanalyse (Life Cycle Assessment) eines Autos wird in der internen und externen Betrachtung bedeutender. Die Einflussfaktoren und Erhebungsgrößen sind so reichhaltig, dass den Journalisten vor Ort nur eine relativ simple Berechnung vorgeführt wird: Die gesamten CO2-Emissionen von der Produktion eines Fahrzeugs über den Betrieb bis zur Verschrottung.

Der Vergleich verschiedener Antriebe führt einerseits zu eher banalen Erkenntnissen wie der, dass Batterie-elektrische Autos in der Herstellung hohe CO2-Emissionen verursachen können, diese jedoch im Fahrbetrieb wieder wettmachen. Und das umso schneller, je größer der Anteil erneuerbarer Energien im Stromnetz ist. Interessanter ist, dass Volkswagen bei allen Langfristszenarien auch das Brennstoffzellen-elektrische Auto untersucht. Man ist davon überzeugt, dass eine Dekarbonisierung des Verkehrs ohne diese Technik keinen Sinn ergibt.

Verbrennungsmotoren? Aber ja, die gibt es, und hier dokumentiert die Konzernforschung, wie sie sich die Nutzung der Abwärme im Auspuffstrang vorstellt: In einem Dampfkreislauf wird Ethanol auf 190-220 Grad erhitzt und verdampft. Dieser Ethanoldampf wird anschließend in einer Expansionsmaschine entspannt, wobei mechanische oder elektrische Nutzarbeit gewonnen werden kann. Dieses System bringt beim erwähnten Lkw von MAN eine Verbrauchsersparnis von drei bis vier Prozent. Das ist viel, wenn man bedenkt, wie angestrengt die Fuhrparkmanager der Speditionen versuchen, die Betriebskosten zu senken.

Ohne Motion Sickness chauffiert werden

Zum Abschluss noch etwas fürs Gefühl. Man kümmert sich bei Volkswagen auch ums Wohlbefinden der Passagiere im Auto. Das Well Being könnte beeinträchtigt werden, wenn zum Beispiel ein Passat hochautomatisiert durch den Stau fährt. Anfahren und wieder abbremsen etwa führt leicht zu Übelkeit, wenn man nicht selbst steuert. Diese Motion Sickness kann durch Sensoren festgestellt werden: Eine Kamera, die einen winzigen Ausschnitt des Gesichts beobachtet, merkt vorm Menschen, dass er blass wird. Wenn dann noch der Feuchtigkeitssensor auf dem Sitz verstärkten Stress meldet, ist der Einsatz von Gegenmaßnahmen nötig. Bitte langsam beschleunigen. Die Lüftung hochdrehen. Die Dämpfer des Fahrwerks anpassen.

Ein Gimmick? Vielleicht. Genau darum geht es aber in der Forschung. Das Mögliche und das Unmögliche ausprobieren. Das, was sehr wahrscheinlich als Produkt kommt, noch besser machen. Und auch mal das Ausgeflippte denken und machen. Für das Auto, dieses seltsame Ding, das uns bald chauffieren soll, um den Alltag zu erleichtern.

Erschienen am 15. Juni bei heise Autos.

Bildquelle: Volkswagen

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