Danke, Volkswagen – ohne die Manipulation an der Steuerungssoftware von Dieselmotoren hätte ein Projekt der Europäischen Union niemals die Aufmerksamkeit erhalten, die ihm jetzt zukommt. Es trägt das Kürzel RDE für Real Driving Emissions. Und das wiederum steht für die Abgasmessung auf der Straße statt im Labor. Aktuell befindet sich RDE in einer Testphase („monitoring“). Ab 2017 wird scharf geschaltet. Dann beinhaltet die Typzulassung eines neuen Fahrzeugmodells die RDE-Messung. Das Ziel ist die Senkung der Stickoxid- und Partikelbelastung im wirklich wahren Leben.
Hier haben etliche europäische Städte – Stichwort: Luftreinhalterichtlinie – und in der Folge die Einwohner seit Jahren ein Problem. Die Grenzwerte werden überschritten. Eine signifikante Verbesserung der Luftqualität war und ist nicht feststellbar, obwohl die kontinuierlich strengeren Grenzwerte für Pkw dazu hätten führen müssen.
Das Umweltbundesamt (UBA) hat immer wieder vorgerechnet, dass Dieselautos die Limits im Realbetrieb nicht nur nicht unterbieten, sondern um ein Vielfaches überschreiten. So gibt das UBA 603 mg / km für Euro 5-Diesel an. Der Grenzwert betrug maximal 180 mg / km. Inzwischen sind nur noch 80 mg / km für Diesel- und 60 mg / km für Otto-Pkw zulässig. Theoretisch jedenfalls. Die Modellrechnungen des UBA zeigen, was jetzt zum Allgemeinwissen gehört: Die Abgasreinigung funktioniert nicht so gut wie technisch möglich; sie ist nur so wirksam, wie sie betriebswirtschaftlich sinnvoll erscheint und gleichzeitig legal ist. Oder so ähnlich.
RDE soll dem zumindest teilweise einen Riegel vorschieben. Hierzu müssen die Autos im Rahmen der Typzulassung auf die Straße. Mit einem PEMS (Portable Emissions Measuremt System) im Kofferraum. Die Bedingungen im öffentlichen Verkehr und außerhalb eines Labors aber schwanken. Der Wind weht. Die Sonne scheint. Dann wieder regnet es. Oder ein Stau droht. Wie soll hier Vergleichbarkeit hergestellt werden?
Vergleichbarkeit? Unwichtig.
Ganz einfach: Es geht nicht um Vergleichbarkeit. Denn Vergleichbarkeit erfordert identische Rahmenbedingungen, und die sind in der Wirklichkeit nicht herstellbar. Vielmehr soll überprüft werden, wie sich ein individuelles Fahrzeug verhält, wenn es nicht über den Prüfstand schleicht.
Damit die Autoindustrie genug Zeit hat, sich auf die neuen Bedingungen einzustellen, hat sie mit Beschluss vom 28. Oktober in Brüssel einen so genannten Conformity Factor (CF) durchgesetzt. Ab 2017 (Phase 1 des RDE) beträgt dieser CF 2,1. Die Prüfstandslimits für NOx dürfen offiziell um diesen Faktor überschritten werden. Ab 2020 (Phase 2 des RDE) sinkt der CF auf 1,5. Außerdem wird dann neben den Stickoxiden die Partikelzahl (PN) erhoben. Der Definition nach soll RDE eine reale Straßenfahrt unter normalen Bedingungen und normaler Fahrweise abbilden. Was ist real und normal? Hier beginnt wieder das Feilschen.
Vorbild USA: Messungen an Bestandsfahrzeugen
So lobt der International Council on Clean Transportation (ICCT) zwar die Einführung von RDE an sich, kritisiert aber in höflichem Ton („strengthening the RDE“) mehrere Details . Die Kaltstartphase etwa, besonders relevant im urbanen Betrieb, fließt in den ersten fünf Minuten nicht ins Ergebnis ein. Der ICCT fordert darüber hinaus, dass wie in den USA nicht nur bei der Typprüfung eines Autos – also einmalig – im RDE gemessen wird. Später solle auch bei willkürlich ausgesuchten Serien- und Bestandsfahrzeugen eine Stichprobe gemacht werden.
Gleichzeitig müssten die Rahmenbedingungen bei RDE aus Sicht des ICCT ausgeweitet werden. Ein Ansinnen, dass den Wünschen der Autoindustrie diametral widerspricht. Eigentlich soll in RDE bei jedem Betriebspunkt des Motorkennfeldes getestet werden können. Hier liegt beim aktuellen Neuen Europäischen Fahrzyklus (NEFZ) eine entscheidende Schwäche, weil nur wenige und eindeutig definierte Bereiche geprüft werden – ein weites Einfallstor für legale Manipulation. Die Stärke von RDE könnte genau in der Unberechenbarkeit liegen, also letztlich in der Abbildung der Wirklichkeit.
Neuer Drittelmix
Die Leitplanken bei RDE: Die Messfahrt soll 90 bis 120 Minuten betragen. Dabei soll die Streckenführung zu jeweils einem Drittel der Kilometer durch die Stadt, übers Land und über die Autobahn geplant werden. Innerhalb dieser Abschnitte sind Mindest- und Höchstgeschwindigkeiten definiert. Auf der Landstraße („rural“) soll 60 bis 90 km/h gefahren werden; auf der Autobahn mindestens 90 und bis zu 145 km/h. Auch die Topografie ist vorgegeben: Der Höhenunterschied innerhalb der Teststrecke soll unter 100 Metern betragen.
RDE definiert zusätzlich so genannte moderate und verschärfte („extended“) Bedingungen. Unter moderat fallen eine Höhe der Teststrecke von maximal 700 Meter über dem Meeresspiegel und eine Temperatur von 0 bis 30 Grad. Extended bedeutet: Eine Höhe von 700 bis 1300 Metern ist zulässig, und das Temperaturfenster reicht von minus sieben bis plus 35 Grad.
Dabei sollen „Klimaanlage und Hilfseinrichtungen im normalen Betrieb“ laufen. Die Masse des Autos soll inklusive Fahrer, Beifahrer und Messtechnik nicht höher als 90 Prozent des zulässigen Gesamtgewichts betragen.
RDE ist damit kein weiterer zahnloser Tiger. Vergleicht man die Rahmenbedingungen mit dem aktuellen NEFZ, ist die Straßenmessung sogar eine Revolution. RDE wird also definitiv zu einer Verbesserung beitragen. Klar ist aber auch, dass die Industrie RDE für sich auslegen darf und wird. Wenn beispielsweise auf der Autobahn ein Geschwindigkeitskorridor von 90 bis 145 km/h erlaubt ist, ist es keine Spekulation anzunehmen, dass sich die Testfahrer eher im unteren Drittel dieses Fensters bewegen werden. Das Schöne an RDE ist, dass eben nicht nur die Industrie und von ihr abhängige Organisationen, sondern auch alle anderen diese Messungen nachstellen können. Vorausgesetzt, sie können mit einem PEMS umgehen.
Rahmenbedingungen gezielt durchbrechen
Der ICCT sieht diese Gefahr und hat darum im Kleingedruckten bereits einen wichtigen Verbesserungsvorschlag: Sobald RDE implementiert ist und funktioniert, solle die EU-Kommission unangekündigte und unabhängige Tests durchführen, in denen die Rahmenbedingungen gezielt überschritten werden. Schwachstellen könnten so aufgedeckt und behoben werden.
Es bleibt also ein zähes Ringen. Wenn man davon ausgeht, dass Verbrennungsmotoren uns noch lange begleiten werden, lohnt es sich. Die Abgasreinigung wird sich mittelfristig stärker dem technisch Möglichen annähern. Das wiederum wird Geld kosten. Es ist gut investiert, denn jeder, der in einem Auto fährt, atmet Stickoxide und Partikel ein. Nicht die des eigenen Fahrzeugs. Die des vorausfahrenden. Und das erfüllt immer den Standard, den der Gesetzgeber irgendwann gesetzt hat.
Erschienen am 25. April bei heise Autos.