In Polarluft

Eigentlich werden Testwagen vor der Übergabe an Journalisten frisch gewaschen. Keine Chance bei herben Minusgraden und Ostwind. So steht der Polestar 2 mit Eiszapfen und dem feinen weißen Überzug da, den das Streusalz hinterlässt. Authentisch skandinavisch. Und auch sonst sieht der „Polarstern“ richtig gut aus: Stämmig und kraftvoll. Mit weit außenstehenden 20-Zoll-Rädern, honiggoldenen Bremssätteln und einer Seitenlinie, die durch das abfallende Schrägheck Assoziationen an den Saab 900 weckt. Einige Passanten identifizieren ihn dagegen sofort als Volvo. Die Scheinwerfer und die Frontmaske, da sei eindeutig, heißt es. Polestar aber will sich als eigene Marke etablieren: Batterie-elektrisch, nordisch, hochwertig. Der Polestar 2 ist zurzeit der einzige direkte Konkurrent zum Tesla Model 3. Bevor im Jahresverlauf kleinere Versionen auf den Markt kommen, gibt es nur das Topmodell: 300 Kilowatt (kW) Motorleistung, 660 Newtonmeter (Nm) Drehmoment und Allradantrieb sind unter Berücksichtigung staatlicher Förderung sowie inklusive der Überführungskosten ab 50.825 Euro zu haben.

Beim Fahren bestätigt der Polestar 2 den optischen Eindruck. Er hat fett Power, ist dezent heckbetont abgestimmt, und die Verarbeitung ist solide und präzise. Außerdem ist die Verwindungssteifigkeit hoch, die Karosserie klapperfrei und das Geräuschniveau sehr niedrig. Das dürfen die Kunden bei nicht weniger als 2.123 Kilogramm (kg) Leergewicht allerdings auch erwarten.

Wer am Steuer sitzt, kann ähnlich wie bei Tesla diverse Parameter im Zentraldisplay einstellen: So lässt sich die Kriechfunktion an- und abschalten. Die Rekuperation ist verstellbar. Und die Lenkung ist es in mehreren Stufen auch. Sogar der Tempomat lässt die Wahl zwischen der adaptiven Abstandsregelung auf dem stumpfen Standard zu.

Perfekte Sprachsteuerung, unbrauchbare Ladeplanung

Überhaupt, die Software. Sie ist wie beim Wettbewerber aus Fremont Update-fähig (over the air, abgekürzt OTA). Polestar avisiert in den nächsten Wochen diverse Verbesserungen: Diese reichen von der Ankündigung einer App zur Überarbeitung der Harmann Kardon-Soundanlage und der 360-Grad-Kamera bis zur Erhöhung von Reichweite und Ladegeschwindigkeit. Und die braucht er auch.

Zuvor aber noch ein Wort zu Googles Betriebssystem Android im Polestar 2. Kollege Clemens hatte hierzu bereits geschrieben. Jetzt folgt der winterliche Praxistest. Ausgesprochen positiv funktionierte zum Beispiel die Sprachsteuerung. Okay Google, fahr mich ans Ziel. Auch Genuschel wird korrekt verstanden und die Route inklusive der Fahrzeit per Maps sauber berechnet. Die Bedienbarkeit ist simpel und flüssig. Wer mit einem Smartphone umgehen kann wird sich sofort zu Hause fühlen. Leider beginnt an dieser Stelle die Kritik.

So hat zum Beispiel die Integration von Ladestopps nicht funktioniert. Die für einen längeren Testtag geplante erste Autobahnetappe aus der bitterkalten niedersächsischen Pampa ins gut 250 Kilometer (km) entfernte Cuxhaven quittierte das System mit der Meldung: „Du kannst Dein Ziel nicht erreichen, weil es nicht genügend geeignete Ladestationen gibt.“ Der Autor dieses Beitrags kennt im Umkreis von 200 km rund um Hamburg fast alle schnellen Gleichstrom-Ladesäulen, die 150 oder mehr kW bereitstellen, und fuhr trotzdem los.

Extreme Kälte, niedrige Reichweite

Zugegeben, bei minus 17 (!) Grad war das erste Teilstück ins 164 km entfernte Bremen ein Härtetest. Aber die Schonzeit für Elektroautos – zumal in diesem Preissegment – ist vorbei. Dass die Reichweitenanzeige im Cockpit bei einem Ladestand von 94 Prozent 410 km prognostizierte, werden Menschen ohne Erfahrung mit Batterie-elektrischen Fahrzeugen vielleicht auf 300 km korrigieren. Was hilft, ist der Blick auf die Projektion durch Google Maps, die mit errechneten 27 Restprozent bei Ankunft der Realität schon näherkam.

Tatsächlich waren es vor Ort lediglich 20 verbleibende Prozent Ladestand. Von 94 auf 20 Prozent nach nur 164 km und mit dem Tempomat auf 120 km/h? Ja. Das ist die Wirklichkeit. Hochgerechnet ergibt sich damit eine Reichweite von gut 220 km. Alle elektrischen Verbraucher wie die Klimaautomatik (20 Grad Wunschtemperatur) oder die hervorragenden Pixel-LED-Scheinwerfer waren dabei durchgehend eingeschaltet.

Reduzierte Ladeleistung bei kalter Batterie

Weil die Routenführung keine Ladestopps integriert, ist die Hoffnung auf ein Vorheizen der Batterie, wie es bei Porsche oder Tesla üblich ist, vorerst obsolet. Wegen der tiefen Temperaturen und des Draußenparkens war dem Speicher offensichtlich noch nicht warm genug: An der bis zu 300 kW starken ersten DC-Ladesäule nahm der Polestar zu Beginn lediglich 47 kW, um sich vorübergehend auf knapp 90 kW hochzuackern und dann zügig wieder abzufallen. In einer halben Stunde waren so frische 35 kWh geladen. Setzt man das ins Verhältnis zu einer Messung mit Richtgeschwindigkeit von 28,4 kWh / 100 km an einem anderen Testtag, resultieren daraus ernüchternde weitere 124 km Reichweite in 30 Minuten Zwangspause.

Das Phänomen der radikalen reduzierten Ladeleistung und damit der Ladegeschwindigkeit ist kein Einzelfall bei Kälte. Im Gegenteil. Keiner der zuletzt gefahrenen Testwagen konnte die theoretischen und unter guten Bedingungen erreichbaren Werte realisieren. Beim Polestar 2 wären das immerhin 150 kW. Wie unter solchen Voraussetzungen ein 2022 vielleicht wieder möglicher Skiurlaub von Hamburg nach Österreich (je nach Zielgebiet rund 1.000 km) mit Kindern, Gepäck oder gar einer Dachbox stressarm durchgeführt werden soll, ist rätselhaft.

Der nächste Verbesserungssprung bei der Nutzbarkeit von Batterie-elektrischen Autos wird mit der Umstellung von 400 auf 800 Volt-Bordnetze erfolgen. Der Porsche Taycan hat das bereits, der Hyundai Ioniq 5 und der Kia CV bekommen es, und auch der nächste Macan wird die höhere Spannungsebene nutzen. Eine höhere Ladegeschwindigkeit ist die Folge. Die gezielte Heizung der Batterie bei niedrigen sowie die Kühlung bei hohen Temperaturen aber bleiben eine Entwicklungsherausforderung für die Ingenieure. Ein Auto soll schließlich ganzjährig und für möglichst viele Szenarien nutzbar sein.

Gut 250 km Winterreichweite

Zurück zum Polestar 2: Der Durchschnittsverbrauch über 703 km lag bei genau 28 kWh / 100 nach Verbrauchsanzeige. Und auf kurzen Strecken muss mit über 40 kWh / 100 km laut Bordcomputer gerechnet werden. Ein Wert inklusive Ladeverlusten kann wegen mehrerer Softwaredefekte an den Säulen nicht angegeben werden. Dass der Polestar 2 kein Effizienzmeister ist, hat sich längst herumgesprochen. Die Werksangabe von 78 kWh Batteriekapazität ist ein Bruttowert; netto dürften es rund 72 kWh sein, was 257 km entspricht. Needs some work. Vielleicht bringt das OTA-Update etwas.

Ein Update würde auch der Fahrautomatisierung guttun. Hier ist der Polestar nicht auf dem Stand etwa eines Volkswagen ID.4 oder eines 3er BMWs. Dort sind zum Beispiel die automatische Übernahme von Tempolimits, ein kapazitives Lenkrad oder eine gute Mittelspurführung enthalten. Alles Punkte, die der Polestar 2 nicht oder nicht in dieser Qualität zu bieten hat.

Kombination aus Kraft und Ästhetik

Der Polestar 2 überzeugt einerseits durch ein stimmiges und komfortables Gesamtkonzept. Die solide Karosserie mit der großen Heckklappe ist durchdacht. Und das Design kommt einfach gut an. Die Integration von Google Android ist zumindest auf dem richtigen Weg. Andererseits bestätigt der Polestar 2 einmal mehr die Führungsrolle des Tesla Model 3 beim Batterie-elektrischen Antriebsstrang an sich. Die Defizite, die das schwedische Elektroauto aus chinesischer Produktion bei Reichweite und Routenplanung zeigt, finden sich abseits von Tesla leider zu häufig.

Ja, die äußeren Bedingungen waren so extrem wie nur denkbar. Insofern dürfen alle Fahrwerte als Worst Case gelten. Vielfahrer werden sich trotzdem woanders umschauen – zum Beispiel bei den Plug-in-Hybriden von Volvo. Seine Freunde wird der Polestar 2 bei jenen finden, die eine attraktive Kombination aus Kraft und Ästhetik wünschen. Dass der Bruttolistenpreis unter der für Selbstständige und Dienstwagenberechtige magischen Steuergrenze von 60.000 Euro liegen kann, ist eine weitere Kaufmotivation.

Erschienen bei heise Autos.

Bildquelle: Christoph M. Schwarzer

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