Batteriezertifikate: Verstehen Sie SOH?

Deutschland kauft gebraucht: 2024 kamen auf 2,8 Millionen neu zugelassene Pkw 6,5 Millionen so genannte Besitzumschreibungen. Das ist der Begriff, den das Kraftfahrtbundesamt (KBA) für den Gebrauchtkauf benutzt. Immerhin 173.034 davon waren Elektroautos. Darauf addieren sich 140.364 Plug-in Hybride, die auch eine Traktionsbatterie haben. Dieses Bauteil ist am wertvollsten. Niemand will ein Auto mit einer defekten oder geschwächten Traktionsbatterie erwerben. Um das Risiko zu minimieren, gibt es Zertifikate. So ein Zertifikat aber ist nicht in allen Aspekten leicht zu verstehen – worauf kommt es wirklich an?

Zuerst soll nochmals betont werden, dass ein gebrauchtes Elektroauto nicht ausschließlich aus der Traktionsbatterie besteht. Auch andere Komponenten wie die Ladegeräte können kaputtgehen. Selbstverständlich verschleißen bei einem Elektroauto die Reifen, die Polster werden dreckig und das Fahrwerk altert. Der Kern bleibt trotzdem der elektrochemische Speicher.

Mit Ampelfarben markiert

Den wohl bekanntesten und am weitesten verbreiteten Batterietest bietet zurzeit Aviloo an. Er steht exemplarisch. Das Aviloo-Zertifikat ist ein zweiseitiges Dokument mit Zahlen und Abkürzungen. Jeder kann das Gesamtergebnis sofort verstehen, weil es mit den Farben Grün für alles okay über Orange für es gibt ein echtes Problem bis Rot für einen massiven Defekt markiert ist.

Auf dem Zertifikat ist die Fahrgestellnummer (FIN) des jeweiligen Pkw eingetragen. Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser: Die FIN sollte vom Interessenten mit dem realen Fahrzeug abgeglichen werden.

Die Werte im Zertifikat beruhen auf dem Flashtest von Aviloo, der nur wenige Minuten dauert und in dem das Batteriemanagementsystem detailliert ausgelesen wird. Das muss so schnell gehen, weil die Gutachter für Leasingrückläufer im Regelfall weniger als zehn Minuten haben, um einen Gebrauchtwagen insgesamt zu beurteilen. Das Leasinggeschäft ist bei Neuwagen dominant und wächst weiter.

Dass dieser Flashtest funktioniert, hat wiederum mit dem ausführlichen Premiumtest zu tun, der ebenfalls tausendfach durchgeführt wird: Umfangreiche Datensätze werden in einer Cloud gesammelt und verglichen. Abweichungen fallen sofort auf.

Der State Of Health (SOH) zählt

Besonders wichtig ist der State Of Health (SOH). Gemeint ist die tatsächliche Energiemenge in Kilowattstunden (kWh), die der Traktionsbatterie entnommen werden kann. Diese wird ins Verhältnis gesetzt zu Messungen vom Neuzustand. So bedeutet ein SOH von 92 Prozent, dass noch 92 Prozent der ursprünglichen Energiemenge und die entsprechend verminderte Reichweite zur Verfügung steht.

Bei Aviloo gibt es an dieser Stelle einen Konfliktpunkt: Das Unternehmen nimmt nämlich die Energiemenge als Wert, die dem Autofahrer im Display von 100 bis null Prozent Ladestand angezeigt wird. Ein eventueller Puffer, der darüber hinausgeht, wird nicht berücksichtigt.

Das kann zum Beispiel dazu führen, dass ein Volkswagen ID.3 mit vom Werk angegebenen 58 kWh Nettokapazität im Fenster von 100 bis null Prozent Ladestand nur 54 kWh freigibt. Wenn davon noch 51 kWh vorhanden sind, wird dieser Wert ins Verhältnis zu 54 kWh gesetzt; der SOH würde hier 94 Prozent betragen.

Tipp: Achten Sie auf den absoluten Zahlenwert in Kilowattstunden, der noch entnommen werden kann. Der sagt vielen Elektroautofahrern mehr als ein SOH in Prozentpunkten.

Was ist die Benchmark?

Neu im Aviloo-Zertifikat ist das Benchmarking. Es gibt an, wie das konkrete Fahrzeug „im Vergleich zu vergleichbaren Fahrzeugen“ (ja, so steht es dort geschrieben) abschneidet. Was bedeutet das?

Für Elektroautos, die häufig gebaut wurden, stehen hunderte oder tausende sehr ähnlicher Fahrzeuge fürs Benchmarking zur Verfügung. Das ist zum Beispiel bei einem Volkswagen ID.4 mit 77 kWh der Fall. Das Benchmarking gibt graphisch an, ob das konkrete Elektroauto über- oder unterdurchschnittlich performt.

Anders könnte das etwa bei einem Alfa Romeo Junior Elettrica sein. Der wird in kleinen Stückzahlen verkauft. Der Antriebsstrang dagegen ist identisch mit etlichen Elektroautos im Stellantis-Konzern. Diese dürften der Maßstab fürs Benchmarking sein. Fast alle marktgängigen Elektroautos können von Aviloo überprüft werden.

Differenzen bei der Zellspannung

Der im Wortsinn spannendste Teil des Aviloo-Zertifikats ist das Zellspannungsdiagramm. Es zeigt jede einzelne Zelle mit der dazugehörigen numerischen Zellspannung und zusätzlich graphisch mit den Ampelfarben Grün, Orange und Rot an.

Ein Batteriesystem ist aus vielen Einzelzellen zusammengesetzt. Beim Renault Zoe 40 zum Beispiel sind es 96 Zellen. Wenn eine oder mehrere Zellen geschwächt oder defekt sind, ist das unmittelbar an der Differenz der Zellspannung ablesbar.

Je geringer die Spannungsdifferenz im Batteriesystem in Millivolt (mV) ist, desto besser. Der Grund: Die schwächste Zelle im System bremst die Performance aus. Ein Batteriesystem sollte in sich darum möglichst homogen sein.

Das Aviloo-Zertifikat zeigt exakt an, welche Zelle eventuell verschlissen oder kaputt ist. Im Renault Zoe 40 sind wie bei den meisten Elektroautos mehrere Zellen in einem Modul zusammengefasst; eine Reparatur würde also den Austausch des Moduls mit der oder den defekten Zellen beinhalten. Dieser Aufbau aus Einzelzellen und Modulen ist repräsentativ für sehr viele Elektroautos im Bestand.

Sonderfälle und Misstrauen

Wie immer gibt es bei Batteriezertifikaten Sonderfälle. Ein Beispiel ist das 800 Voltsystem von Hyundai. Es wirft die Daten für die Zellspannung nur in Schritten von 20 mV aus, während es bei anderen Herstellern ein bis zwei mV sind. So kann der Eindruck entstehen, dass ein Batteriesystem absolut perfekt ist, obwohl es kleine Unterschiede gibt. Dennoch gilt auch für diese geringere Auflösung bei den Messdaten, dass eine minimale Differenz bei der Zellspannung gleichbedeutend mit einem gesunden Batteriesystem ist.

Skeptisch und misstrauisch sollten Gebrauchtwagenkäufer sein, wenn ein älteres Elektroauto vom Händler mit einem SOH von 100 Prozent angeboten wird. Solche Traumergebnisse sind meistens das Resultat von Hersteller-eigenen Auslesungen des Batteriemanagementsystems, die großzügig positiv interpretiert werden. Traktionsbatterien degradieren immer – so wie jedes andere Auto durch die Nutzung verschleißt.

Leider (noch) nicht selbstverständlich

Viele Autohändler haben begriffen, dass Elektroautos ohne glaubwürdiges Zertifikat kaum verkäuflich sind. Das gilt insbesondere, wenn die Werksgarantie abgelaufen ist oder nicht mehr lange gültig ist.

Dass sich die relativ preisgünstigen Messgeräte noch nicht in der Breite durchgesetzt haben, ist vor diesem Hintergrund mysteriös. Es ist keine gewagte Annahme, dass sich das zeitnah ändern wird: Batteriezertifikate werden bald selbstverständlich sein.

Bei einem Pkw mit Verbrennungsmotor konnte man ungefähr prüfen, ob die Wartungshistorie lückenlos ist, ob es Geräusche gibt oder ob das Öl halbwegs gut aussieht. Letztlich aber blieb die Unschärfe, und ein Mangel konnte leicht vertuscht werden. Das Elektroauto bietet den Vorteil, dass das wichtigste Bauteil genau gemessen werden kann. Diese Transparenz ist gut für die Käufer – und kann einige Verkäufer ins Schwitzen bringen.

Erschienen bei heise Autos.

Bildquelle: Aviloo

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