The Next Level

Einschalten zum Abschalten: Ein Knopfdruck, und das Auto übernimmt die Verantwortung. Der Fahrer kann sich anderen Aufgaben widmen, darf lesen oder essen – zumindest auf der Autobahn („Chauffeur-Funktion“). Allerdings muss er prinzipiell bereit sein, das Steuer wieder selbst in die Hand zu nehmen, wenn das System überfordert ist. Falls das nicht der Fall ist, bremst das Fahrzeug vorsichtig ab, lenkt automatisch auf den Standstreifen und stellt so den risikominimalen Zustand her. Das ist die Kurzbeschreibung des hochautomatisierten Fahrens. Level 3 sagen die Fachleute. Es könnte längst Realität sein, aber es fehlen internationale Standards und Gesetze. Um diesen Schwebezustand zu überwinden, wurde des Projekt PEGASUS ins Leben gerufen: Es soll Szenarien definieren, Methoden entwerfen und Simulationen festlegen, mit denen hochautomatisierte Fahrfunktionen einheitlich überprüft werden können. heise Autos war bei der Abschlussveranstaltung auf dem abgesperrten Testgelände von Volkswagen in Ehra-Lessien vor Ort.

Hier, im einsamen niedersächsischen Hinterland, sind normalerweise nur Volkswagen zu sehen. Jetzt fahren auch Testwagen der Marken Audi, BMW und Mercedes auf der Freifläche. Die weiteren Projektpartner von PEGASUS sind neben der Autoindustrie zum Beispiel das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR), der TÜV Süd, die Forschungsgesellschaft Kraftfahrtwesen (fka) mbH aus Aachen oder die Bundesanstalt für Straßenwesen (BASt). Gefördert wird PEGASUS durch das Bundeswirtschaftsministerium (BMWi) mit 16,3 Millionen Euro. Eine hochranging besetzte Gesamtveranstaltung für eine umfangreiche Fragestellung.

Basis für eine spätere UNECE-Regel

Was es dann zu sehen gibt, ist nur auf den ersten Blick banal: Ein serienmäßiger Mercedes GLE folgt einem Kia Soul auf einer nachgestellten rechten Autobahnspur. Der Kia weicht einem extrem langsamen Auto aus – vielleicht hat es einen Reifenplatzer –, und der Mercedes muss eine automatische Notbremsung einleiten. Und genau das tut er auch.

Szene 2, dieses Mal mit diversen Audi A7. Auf der rechten Fahrspur ist ein Liegenbleiber. Das VUT (Vehicle Under Test) könnte nach links wechseln, wo aber zwei weitere Pkw unterwegs sind. Reicht der Platz zum Einscheren vor oder zwischen diesen beiden, oder muss gewartet werden, bis beide vorbei sind? In allen Szenarien bewältigt das Audi-VUT die Aufgabe zuverlässig.

Worum es bei PEGASUS geht ist, diese Anforderungen reproduzierbar zu definieren und zu standardisieren, sodass sie als Basis für ein später folgendes internationales Gesetz, zum Beispiel in der UNECE, dienen können. Übrigens guckt auch die Society of Automotive Engineers (SAE) mit größtem Interesse nach Europa, denn auch dort ist man sich einig, dass der vorwiegend pragmatische Ansatz, die Fahrautomatisierung einfach mal auszuprobieren und abzuwarten was passiert, nicht ausreichend ist.

Tiefgehende Forschung statt Versuch und Irrtum

Wie komplex die Einzelthemen bei PEGASUS sind, zeigt die Tatsache, dass in der Scirocco-Halle auf dem Gelände in Ehra-Lessien nicht weniger als 32 Stände aufgebaut sind, an denen Forscher und Wissenschaftler die Inhalte erklären, mit denen sie sich jahrelang befasst haben. So hat etwa die BASt untersucht, in welchem Zeitraum Menschen in der Lage sind, die Rückübernahme des Autos zu erledigen, wenn die Systemtechnik an Grenzen gerät.

In einem ersten Praxisversuch fanden die Psychologen der BASt heraus, dass das Lenkrad selbst sehr schnell wieder in der Hand des Menschen ist. Um sich aber wirklich im Verkehr zu orientieren, also zu verstehen, welche Situation gerade besteht, dauert es bis zu acht Sekunden – eine wesentliche Erkenntnis.

Was Sicherheit wiederum überhaupt ist und wie sie wahrgenommen wird, hat der TÜV Süd eingehend geprüft: Wann ist ein hochautomatisiertes Auto so sicher, dass einzelne Unfälle nichts am Vertrauen in die Technik ändern? Denn auch wenn das Ziel immer null Schäden mit null Verkehrstoten ist, kann es zum Zusammenstoß kommen. Hier geht es nicht darum, ob die Automatisierungssoftware besser fährt als der Mensch, denn das tut sie im Regelfall, sondern wie groß das Restrisiko sein darf, damit sie weiterhin sozial und emotional akzeptiert ist.

Schnell wird klar: Im Rahmen von PEGASUS wurde mit großem Ernst und äußerst tiefgehend gearbeitet. Das ist auch notwendig, denn es wäre fast unmöglich, den „Autobahn-Chauffeur“ nach Level 3 ausschließlich auf öffentlichen Straßen zu testen. Das Problem ist die bei maximal Tempo 130 ohnehin geringe Unfallhäufigkeit: Mindestens sechs Milliarden Kilometer pro Einzelfunktion müssten gesammelt werden – viel zu viel, um in angemessener Zeit zu brauchbaren Daten zu kommen. Die Verkürzung dieser Spanne ist ebenfalls ein wesentliches Teilziel von PEGASUS.

Vorerst nur verbesserte Level 2-Systeme

Was bleibt, ist eine Mischung aus Ernüchterung und Vorfreude. Alle in der Vergangenheit angekündigten Startdaten für Level 3 sind nach heutigem Stand Makulatur. Es gibt keinen internationalen gesetzlichen Rahmen, und es unklar, wann und wie er in Kraft wird. Die Autos sind in ihrer Entwicklung weiter als die UNECE. Die Fahrer müssen sich also damit abfinden, mittelfristig die verbesserten aktuellen Level 2-Systeme zu nutzen: Dieses teilautomatisierte Fahren steigert den Komfort und die Sicherheit in kleinen Schritten immer weiter. Aber der vorübergehende Ausstieg aus der Überwachung und der Verantwortung ist nicht absehbar.

Gleichzeitig zeigt das breit angelegte Projekt, dass es sehr wohl machbar ist, Maßstäbe zu setzen und diese für zukünftige Autos einzufordern. Kritiker und Technikgläubige mögen das als bürokratisch oder verkrampft abwerten – am Ende aber dient es der Verkehrssicherheit.

Erschienen bei heise Autos.

Bildquelle: DLR

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