Druck-Reich

Wow, was ist das? Gestatten: Urwahn Platzhirsch. Wer mit diesem Pedelec durch die Stadt cruist, sollte auf Fragen von Fahrrad-affinen Menschen vorbereitet sein. Kern des Platzhirschs ist die Kombination eines Stahlrahmens, der im 3D-Druckverfahren (!) hergestellt wurde, sowie einem elektrischen Hilfsantrieb des Automobilzulieferers Mahle. Das Pedelec wiegt nur 14 Kilogramm, ist zugleich ultrastabil, es fährt sich agil und sehr präzise. Oder anders ausgedrückt: Das Urwahn-Bike ist ein Freudenspender.

Am auffälligsten am Platzhirsch ist das unterbrochene Sattelrohr im Rahmen. Ein faszinierendes Element: Subjektiv wirkt der gesamte Rahmen enorm steif. Und trotzdem hat er objektiv eine Eigendämpfung. Urwahn weist das in einem Video zum Sicherheitscheck nach DIN ISO 4210 (ab Timecode 0‘41“) nach: Der Rahmen ist bei Vertikalbelastung hinten leicht flexibel. In Verbindung mit den hohen Flanken der Continental Urban Grand Prix-Bereifung sowie dem Gel-Sattel (Ergon GA30) bleibt der Platzhirsch sportlich, ohne übertrieben hart zu sein. Genau die richtige Mindestdosis Komfort für den Alltag.

Regionale Fertigung statt Asienimport

Sebastian Meinecke, Geschäftsführer und Lead Designer bei der Magdeburger Urwahn Engineering GmbH, bringt im Gespräch mit heise Autos das 3D-Druckverfahren auf den Punkt: „Letztlich ist es ein Schweißprozess in Schichtbauweise.“ Das Ausgangsmaterial ist ein Pulver, das durch die so genannte Verdüsung von Stahl gewonnen wird. Die speziell geformten Rahmenrohre, die in einem separaten Prozess entstehen, laufen mit den 3D-Druckteilen bei der Firma Rotor Bikes zusammen und werden dort händisch verschweißt. „Insgesamt dauert das gerade mal drei Arbeitsstunden“, so Meinecke, „und eine weitere Teilautomatisierung über Laserschweißroboter ist möglich.“

Mit dieser regionalen Rahmenfertigung hebt sich Urwahn von der Konkurrenz ab, die nahezu unisono in asiatischen Ländern wie Taiwan, Vietnam oder Kambodscha bestellt. In diesem Jahr strebt man bis zu 150 Bikes im Manufakturbetrieb an, was kein Problem sein dürfte, weil die 100 bereits überschritten sind. Gut 60 davon entfallen auf den elektrifizierten Platzhirsch, den Rest macht der konventionelle Stadtfuchs aus. Lieferzeit: 45-60 Tage nach Bestellung.

Leichter Mahle-Antrieb

Für die von heise Autos gefahrene Singlespeedversion mit Gates Drive (alternativ: Shimano XT Kettenschaltung 11-fach) hat der Kunde die Wahl zwischen der Übersetzung 60 zu 20 oder 55 zu 20. Wer eine gewisse Kondition hat, sollte unbedingt die im Testrad verbaute lange Übersetzung nehmen. Der Mahle X35-Antrieb (aka „ebikemotion“) schiebt geräuschfrei, feinnervig und geschmeidig mit an. Drei, vier, fünf Tritte, und die gesetzliche 25 km/h-Grenze ist erreicht. Das Weitertreten ist – eigene Beinkraft vorausgesetzt – problemlos möglich. Ein Modus, der sich schnell einstellt. Das Teil geht wie die Sau.

Der Mahle-Antrieb unterscheidet sich damit deutlich von den Bosch-Mittelmotoren. Es ist tatsächlich der viel zitierte Rückenwind beim Beschleunigen. Kraftvoll und gefühlt ziemlich natürlich. Der E-Motor regelt sehr exakt. Und er bietet wie gesagt die wichtige Option, über 25 km/h weiterzutreten; hier erinnert das Mahle-System an das von Fazua Evation. Im Ergebnis schont man automatisch die mit 250 Wattsunden (Wh) relativ kleine Batterie. Selbst auf ausgedehnten 50 km-Touren durch Hamburg war der elektrochemische Speicher nicht kleinzukriegen. Unser Tipp: Verzichten Sie auf den zusätzlich erhältlichen Trinkflaschenakku mit 208 Wh. Grundsätzlich ist es schön zu sehen, wie sehr sich der Markt der Pedelec-Antriebe inzwischen differenziert und professionalisiert hat, und der heutige Stand ist sicher nicht das Ende der Entwicklung.

Optik: Clean.

Die 250 Wh-Batterie ist unsichtbar ins Unterrohr geschoben; beim Blick von unten lässt sich der Verschluss betrachten. Dennoch ist er nicht als herausnehmbares Teil konzipiert – wegen des Gewichts von 14 kg lässt sich der Platzhirsch aber auch in höhere Stockwerke tragen, falls kein Außenstromanschluss vorhanden ist. Überhaupt sind alle Züge und Kabel beim Urwahn Platzhirsch so unauffällig oder unsichtbar verlegt, wie das nur vorstellbar ist. Die gesamte Optik ist sehr clean, und das satte Rot (Farbton „Oxid“) der Pulverbeschichtung macht den Platzhirsch zu einem schönen Pedelec. Das zumindest sagen auch Passanten und Menschen, die sich eigentlich nicht für Zweiräder interessieren.

Eine scheinbare Schwäche des Platzhirschs ist der Preis: 4.490 Euro verlangt Urwahn dafür. Der sinnvolle GPS-Tracker (179 Euro) und der Hexlox-Komponentendiebstahlschutz (85 Euro) kosten genauso Aufpreis wie ganzjahrestaugliche Schutzbleche (49,95 Euro) oder ein stabiler Gepäckträger (69,95 Euro). Noch vor wenigen Jahren wäre die Vorstellung absurd gewesen, diesseits von Carbonrennern so viel Geld auszugeben.

Selbstläufer Pedelec

Die Zeiten aber haben sich geändert: Laut ZIV hatten 2019 1,36 der 4,31 Millionen in Deutschland verkauften Fahrräder einen elektrischen Hilfsantrieb. Die Bereitschaft, Geld auszugeben, ist also groß. Hier reicht die Preisspanne von den Billigprodukten der Supermärkte (bis 1.000 Euro) über die Bosch-Armada (um 3.000 Euro) bis zu den beliebten Lastenpedelecs von Riese und Müller, für die mit etwas Zusatzausstattung leicht über 7.000 Euro ausgegeben werden können. Vor diesem Hintergrund fällt das Urwahn Platzhirsch unter das, was bei Autos die obere Mittelklasse wäre. Nicht billig, sondern das Geld wert.

Wettbewerber gibt es genug. Zum Beispiel das Cowboy Bike für 2.290 Euro. Ein gutes Teil, was beim Feinschliff von Antrieb und Rahmen aber nicht mit dem Urwahn mithalten kann. Oder das Schindelhauer Arthur mit dem gleichen Mahle-System wie das Urwahn und dank Alurahmen nochmals ein paar hundert Gramm leichter und rund 800 Euro günstiger.

In einer Zeit, in der weltweite Lieferketten neu durchdacht werden müssen, punktet das Urwahn mit regionaler Fertigung auf höchstem Qualitätsniveau. Das Konzept des Platzhirschs mit 3D-Druck-Stahlrahmen ist faszinierend und stimmig, und der Mahle-Antrieb ist so perfekt, wie es dem Ehrgeiz eines Automobilzulieferers entspricht. Es gibt einen Markt für Pedelecs in diesem Preissegment. Am wichtigsten aber ist: Es macht verdammt viel Spaß, mit dem Platzhirsch durch die Stadt fahren.

Erschienen bei heise Autos.

Bildquelle: Christoph M. Schwarzer

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