Es ist dieses Jahr – 2020 -, in dem die CO2-Emissionen jedes Autoherstellers abgerechnet werden. Es ist Zeit für eine Zwischenbilanz: Welche Marke ist auf Kurs und erreicht oder unterbietet das gesetzlich vorgegebene Limit von durchschnittlich 95 Gramm Kohlendioxid pro Kilometer? Wie viele Elektroautos werden verkauft? Und wem drohen hohe Strafzahlungen? Zum Redaktionsschluss lagen Daten des International Council on Clean Transportation (ICCT) für alle bis Ende Mai im europäischen Wirtschaftsraum europäischen Wirtschaftsraum neu zugelassenen Autos vor. Für die meisten Konzerne sieht es gut aus – nur bei der Daimler AG ist die Frage offen, wie der CO2-Grenzwert noch eingehalten werden kann.
heise Autos hatte im Dezember das Abrechnungssystem ausführlich erklärt und die Prognose gewagt, dass die Autoindustrie keinen Euro Strafe zahlen muss. Eigentlich sind für jedes Gramm Überschreitung und pro Pkw 95 Euro fällig. Hier können also leicht mehrstellige Millionen- oder sogar Milliardensummen zusammenkommen. Wenn es die Hersteller aber schaffen, den gewichtsindividuellen Grenzwert einzuhalten, leidet weder der Ruf des Unternehmens noch dessen Kasse.
Gewichtsrabatt, Phase-In, Pooling und Supercredits
Vorm Blick auf die Bilanz der ersten fünf Monate des Jahres nochmals die wichtigsten Berechnungsgrundlagen und Ausnahmen im Überblick:
- Der Grenzwert von 95 g CO2/km ist gewichtsindividuell und bezieht sich auf 1.392 kg. PSA hat die leichtesten Pkw verkauft und muss 91 g erreichen. Volvo hat die schwersten Fahrzeuge auf die Straße gebracht und darf durchschnittlich 108 g emittieren.
- Maßgeblich sind die CO2-Emissionen nach dem alten NEFZ. Bei aktuellen Typzulassungen gilt zwar das Verfahren WLTP. Dessen Werte werden aber zur Vergleichbarkeit über die letzten Jahre auf NEFZ zurückgerechnet.
- Für das Abrechnungsjahr 2020 dürfen pauschal die schmutzigsten fünf Prozent der Neuwagen gestrichen werden („Phase-In“).
- Pooling ist erlaubt. Jeder Hersteller darf sich mit jedem anderen zusammen bilanzieren. Prominentestes Beispiel hierfür sind Fiat Chrysler Automobiles (FCA) und Tesla. Ob hierbei eine Ausgleichszahlung geleistet wird, ist dem Gesetzgeber egal.
- Für Batterie-elektrische Autos (nachfolgend abgekürzt BEV für Battery Electric Vehicle) mit null g CO2/km und Plug-in-Hybride (PHEV für Plug-in Hybrid Electric Vehicle) mit weniger als 50 g CO2/km gelten die so genannten Supercredits: Diese Fahrzeuge gehen doppelt in die Rechnung ein (2021: Faktor 1,67; 2022: 1,33). Der Gesamtnachlass durch Supercredits ist auf 7,5 g in drei Jahren beschränkt.
- So genannte Eco Innovations können den CO2-Wert ebenfalls senken. Damit sind technische Lösungen gemeint, die im Messzyklus nicht erfasst werden, aber nachweisbar einen Nutzen erbringen wie zum Beispiel LED-Scheinwerfer.
Nur noch drei Gramm vom Ziel entfernt
Mit Ausnahme der Daimler AG befinden sich alle Autohersteller im sinnvollen Korridor: Die CO2-Flottenemissionen weichen lediglich im einstelligen Prozentbereich nach oben oder unten von der Ideallinie ab. Der Gesamtdurchschnitt ist mit 98 g CO2/km nur noch drei (!) Gramm vom Ziel entfernt. Dieses scheinbar einheitliche Bild kommt aber auf unterschiedliche Art und Weise zu Stande. Ein Blick in die Details lohnt sich.
Der Volkswagen-Konzern zum Beispiel liegt mit bis Ende Mai erhobenen 103 g CO2/km noch sieben Gramm vom gewichtsindividuellen Grenzwert von 96 g CO/km entfernt. Das entspricht acht Prozent Abweichung nach oben.
Elektro-Offensive des Volkswagen-Konzerns
Auffällig ist, wie stark die Marken des Volkswagen-Konzerns in diesem Jahr in die Elektro-Offensive gegangen sind. Der e-Golf ist auch dank massiver Nachlässe das meistverkaufte BEV in Deutschland, und in anderen Staaten des europäischen Wirtschaftsraums wie Norwegen ist der e-Golf ebenfalls erfolgreich. Er wird noch fast bis zum Jahresende weiterproduziert – wohl auch, weil man sich nicht sicher ist, wie schnell die Produktion des ID.3 in Zwickau hochgefahren werden kann. Dazu gesellen sich die baugleichen Kleinstwagen Volkswagen e-Up, Skoda Citigo und Seat Mii, die nach Abzug der Förderungen ab etwa 13.000 Euro zu haben sind und so einen Nachfrageboom ausgelöst haben.
Es darf als sicher angenommen werden, dass es dem Volkswagen-Konzern gelingen wird, die verbliebene Lücke bis zum Grenzwert im Jahresverlauf zu schließen. Neben dem e-Golf und dem ID.3 tragen übrigens die BEVs im Hochpreissegment zur besseren Bilanz bei: Audi e-tron und Porsche Taycan verkaufen sich prächtig.
Während es der BMW Group dem hohen SUV-Anteil zum Trotz mit der Mischung aus BMW i3, Mini Cooper SE, etlichen PHEVs in allen Baureihen sowie der milden Hybridisierung von Verbrennungsmotoren schon jetzt gelingt, nahezu eine Punktlandung hinzulegen (Zielwert 102 g CO2/km, Ist-Wert 101 g), hat die Daimler AG mit den Marken Mercedes und Smart eine Abweichung von 17 Gramm nach oben: Statt 102 g CO2/km emittieren die bis Ende Mai verkauften Pkw durchschnittlich 119 g CO2/km.
Zur Erinnerung: 17 Gramm Differenz mal 95 Euro Strafzahlung multipliziert mit bis zu einer Million Pkw pro Jahr würden 1,6 Milliarden Euro entsprechen.
Muss die Daimler AG Strafe zahlen?
Für die Daimler AG gibt es mehrere Möglichkeiten, auf die Situation zu reagieren. Zum einen könnte man die CO2-Strafe einfach zahlen und schweigen. Zum anderen könnten sämtliche Anstrengungen unternommen werden, um die Bilanz zu verbessern: Der nur noch elektrisch angebotene Smart ist vorerst ausverkauft – vielleicht lassen sich aber die Absatzzahlen der Mercedes-Elektroautos EQC und EQV noch steigern. Außerdem könnten Pkw mit extrem schlechter CO2-Bilanz (die AMG-Versionen erfreuen sich großer Nachfrage) bei der Erstzulassung ins Jahr 2021 verschoben werden, immer in der Hoffnung, dass dann mit EQA und vor allem dem Kompakt-SUV EQB genug ausgleichende Elektro-Stückzahlen in den Markt kommen.
Ungeschickt wäre nur, wenn die Daimler AG behaupten würde, die CO2-Grenzwerte der EU wären unerreichbar. Damit dürfte der Autokonzern nämlich allein dastehen.
Die meisten Hersteller machen es wie die BMW Group und verfolgen eine Strategie der Mischung: BEV und PHEV einerseits, dazu eine Mildhybridisierung bei den konventionellen Antrieben – reicht. Je nach Produktportfolio nutzen etliche Unternehmen die Supercredits bereits voll aus; dazu gehört neben Nissan, Volvo, Kia und Hyundai auch die BMW Group. Es steht den Herstellern selbstverständlich frei, noch mehr BEV und PHEV zu verkaufen, nur gehen diese Fahrzeuge nicht mehr doppelt, sondern nur noch einfach in die Bilanz ein.
Auch Toyota wird Elektroautos bauen
Eine erwähnenswerte Ausnahme ist weiterhin Toyota. Der japanische Riese bildet einen Pool mit Mazda und nutzt lediglich 0,1 der möglichen 7,5 Gramm an Supercredits aus. Übersetzt: Toyota und Mazda verkaufen so gut wie keine BEV- oder PHEV-Modelle. Bisher ist nur der Prius Plug-in mit Ladestecker zu haben. Im Jahresverlauf kommen aber einige Modelle hinzu: Angefangen vom RAV4 PHEV über den ProAce Electric bis zum Lexus UX300e und nicht zu vergessen dem skurrilen Mazda MX-30 überdenken die Japaner ihre bisherige Strategie, ausschließlich mit sparsamen Vollhybridautos zu punkten. Auch das muss klar sein: Toyota schafft es mit dem millionenfach verkauften Hybrid Synergy Drive locker, den Grenzwert von 95 g CO/km zu unterbieten. Der neue Yaris Hybrid mit 64-73 g CO2/km ist nur ein Beispiel dafür.
Die Zeiten der Totalverweigerung aber sind vorbei: Toyota wird massenhaft BEV und PHEV bauen, und um das Image der Verlässlichkeit zu untermauern, starten Lexus UX300e und Toyota ProAce Electric mit einer Million Kilometern Batteriegarantie.
Der Gesamtmarkt hat sich bis Ende Mai als Folge der SARS-CoV-2-Pandemie desaströs entwickelt. Im Jahresvergleich von Januar bis inklusive Mai hat sich die Zahl der Neuwagen im europäischen Wirtschaftsraum um 44 Prozent auf knapp 3,9 Millionen reduziert. Hieraus ergeben sich aber nur geringe Verschiebungen bei den Antriebsvarianten, wo die jeweilige nationalstaatliche Förderpolitik die Hauptrolle spielt: In Norwegen zum Beispiel hatten 66 Prozent aller Neuwagen (43 Prozent BEV, 23 Prozent PHEV) einen Ladestecker. In Schweden sind es 21 Prozent gewesen (fünf Prozent BEV, 16 Prozent PHEV). In Deutschland waren es sieben Prozent (drei Prozent BEV, vier Prozent PHEV) und in Griechenland zwei Prozent.
Förderung für Autos mit Ladestecker
Für Deutschland ist wegen der ab Erstzulassungsdatum 4. Juni deutlich erhöhten Förderung ein Zuwachs im Bestelleingang zu erwarten: Der staatliche Anteil des so genannten Umweltbonus wächst für BEV bis 40.000 Euro Nettolistenpreis von 3.000 auf 6.000 Euro. Dazu addiert sich der Herstelleranteil 3.000 Euro netto, was bei 16 Prozent Mehrwertsteuersatz 3.480 brutto entspricht.
Entscheidend für den Hochlauf dürfte auch die nochmalige Steuersenkung für die private Nutzung von elektrischen Firmenfahrzeugen sein. Normalerweise muss für diesen geldwerten Vorteil ein Prozent des Bruttolistenpreises pro Monat versteuert werden. Bei BEV und PHEV ist es nur die Hälfte und bei BEV bis 60.000 Euro (vorm Konjunkturpaket: 40.000 Euro) sogar nur ein Viertel. Hier ist der Kauf- oder Leasinganreiz groß. Und Deutschland als größter Einzelmarkt im europäischen Wirtschaftsraum hat rechnerisch einen wichtigen Einfluss auf die CO2-Bilanz.
Die CO2-Flottenemissionen bleiben ein Rechenexempel, also eine „sich stellende Aufgabe, die durch genaues Kalkulieren, Abwägen oder Ähnliches zu lösen ist“, wie es der Duden beschreibt. In der Autoindustrie beschäftigen sich große Fachabteilungen damit, dieses Problem so kostenarm wie möglich zu beheben.
Die Europäische Union wiederum sollte die Regelung für die Zukunft überarbeiten. Sie hat einen Mechanismus geschaffen, in dem Batterie-elektrische Autos pauschal mit null Gramm in die Bilanz eingehen, unabhängig davon, ob ein effizienter Hyundai Ioniq Elektro oder ein stromfressendes Tesla Model X zugelassen wird. So ist der CO2-Flottengrenzwert längst zu einem Zahlenspiel geworden, in dem Neuwagen mit Ladestecker zu einer Pflichtübung für alle geworden sind, die so wenig wie möglich am Verkaufserfolg von großen, leistungsstarken und schweren Pkw aller Art ändern wollen.
Erschienen bei heise Autos.