Der Fahrer ist permanent in der Verantwortung. Es ist seine Aufgabe, alle Assistenzsysteme zu überwachen. Er ist in der Pflicht, wenn die Elektronik einen Fehler macht. Wer die oberste Entscheidungsgewalt hat, trägt im Zweifel die Schuld – und das ist der Mensch. Vergessen wir diese Grundsätze, kann es kritisch werden: So sind zuletzt mehrere Unfälle öffentlich geworden, bei denen der so genannte Autopilot von Tesla vermeintlich versagt hat. Wir können keine juristische Bewertung dieser Crashs vornehmen. Aber wir können erklären, was bei einem Massenhersteller wie Volkswagen heute der Stand der Technik ist und aus welchen Verkehrssituationen ein Risiko entsteht. Der Fokus soll dabei auf der Längsführung liegen, also dem Gas geben, dem Verzögern und der automatisierten Notbremsung.
Volkswagen ist ein repräsentatives Beispiel für die traditionelle Autoindustrie. Die Wolfsburger müssen Rücksicht nehmen: Alle Funktionen müssen äußerst robust sein und weltweit in allen Märkten sowie bei allen Kunden maximale Sicherheit bieten; man nähert sich dem Thema konservativ statt mit dem Selbstbewusstsein des Silicon Valley an.
Wichtig zu wissen: Jeder Fahrer kann jedes Assistenzsystem jederzeit überstimmen. Ein Passat etwa hat im Betrieb mit automatischer Distanzregelung (abgekürzt ACC aus dem Englischen für adaptive cruise control) eine Rechtsüberholverhinderung auf der Autobahn. Ist dem Menschen diese Vorschrift gleichgültig, gibt er Gas, und das Auto gehorcht.
Deaktivierung als Folge der Überstimmung
Diese Überstimmungsregel ist elementar, hat aber Besonderheiten. Tritt der Fahrer nämlich auf die Bremse, hat er ACC anders als durchs Gas geben ausgeschaltet und steuert wieder komplett selber. Dieses Prinzip ist auf andere Autohersteller analog übertragbar und führt immer wieder zu Missverständnissen. ACC, der Tesla Autopilot und andere Tempomaten mit Abstandsregulierung müssen nach der Überstimmung durchs Bremspedal neu aktiviert werden, wenn sie funktionieren sollen. Hier liegt eine allgemeine Schwachstelle in der Bedienlogik – wer nicht rational weiß, wie die Fahrautomatisierung arbeitet, kann sich leicht in falscher Sicherheit wiegen, konkret also in der Fehlannahme, dass die Distanzregelung noch aktiv ist.
Zu den Details des ACC wieder das Beispiel Volkswagen Passat: Dieses Assistenzsystem basiert auf einem Radar und wird – falls der Wagen auch damit ausgestattet ist, was üblich ist – mit den Informationen aus der Frontkamera unterstützt. Diese Kombination kann schneller reagieren, wenn etwa ein Einscherer auf der Autobahn zu einer plötzlichen Bremsung zwingt.
Bei ACC heftet sich das Auto quasi an den Vordermann, beschleunigt auf die maximale gewählte Geschwindigkeit und bremst im Passat bis zum Stillstand. Geht es innerhalb von drei Sekunden weiter, also in einer typischen Stop & Go-Situation, fährt das Auto wieder an. Wird diese Karenzzeit überschritten, muss der Fahrer einen Gaspedalimpuls geben oder die Resume-Taste auf dem Lenkrad drücken.
Warum die Auslegung auf drei Sekunden? Weil man bei Volkswagen aus der Forschung eine Gefahren-Risiko-Analyse erstellt hat, die davon ausgeht, dass der Fahrer innerhalb dieser Frist noch aufmerksam ist. Und das bedeutet hier: Wenn das Auto wieder anfährt, hat er noch die Straße und den Verkehr im Blick, kann also reagieren, falls (abseits der Autobahn) ein Radfahrer quert oder ein Kind einem Ball hinterherläuft. Im Touareg ist dieser Zeitraum auf 15 Sekunden ausgeweitet, weil hier der Nahbereich mit den Ultraschallsensoren überwacht wird, die sonst beim Einparken helfen.
Vorsprung bei Tesla durch selbstständiges Wiederanfahren
Beim Wiederanfahren im Stop&Go-Verkehr liegt auch eine qualitative Abgrenzung zu Tesla: Ein Model S setzt sich ohne Gaspedalimpuls wieder in Bewegung. Im Zentraldisplay deutlich ersichtlich ist im Tesla auch, wie die zwölf Ultraschallsensoren permanent den Nahbereich scannen. Faszinierend. Es ist Spekulation, aber mutmaßlich gehen die Kalifornier hier ein kleines Stück mehr ins Risiko als Volkswagen und andere. Der Komfortgewinn durch das selbsttätige Wiederanfahren jedenfalls ist hoch, wie der Autor aus eigener Nutzung des Autopilots weiß. Ob die daraus entstehende Gefahr zu groß ist, wird die Lebenspraxis zeigen. Kaum etwas fürchten Autohersteller so sehr wie Produkthaftungsklagen von US-Kunden.
Ein Problem von adaptiven Distanzregelungen ist, dass sie wie erwähnt einen Vordermann zur Orientierung brauchen. Und zwar einen, der sich bewegt. Ist dieses Objekt einmal erkannt, gibt es selten Schwierigkeiten; diese moderne Form des Tempomaten war schon vor 20 Jahren in der Mercedes S-Klasse (W140) erhältlich und hat sich durchgesetzt.
Problem: Nichterkennen von bereits stehenden Autos
Stehende Hindernisse dagegen zeigen die Grenzen dieser Systeme auf; hier gibt es Einschränkungen. Wer etwa in der Stadt mit ACC fährt und in der Ferne eine rote Ampel mit bereits stehenden Autos sieht, muss selber bremsen. Auch hier ist es wichtig, dass der Fahrer sich über dieses Nichtkönnen im Klaren ist – wer fälschlicherweise erwartet, dass das Auto nun von alleine verzögert, kann einen erheblichen Adrenalinschub erleben und fährt im Worst Case auf.
Unabhängig von ACC hat der Radar bei Volkswagen zusätzlich die Funktion Front Assist mit City-Notbremsfunktion. Genauer formuliert: Sehr viele Volkswagen-Modelle sind inzwischen serienmäßig mit einem Radar ausgestattet, ohne dabei zwangsläufig auch ein ACC haben zu müssen. So sind sämtliche Golf Sportsvan-Modelle mit Ausnahme der Basisversion Trendline ohne Aufpreis mit Front Assist ausgestattet. Beim Tiguan haben alle Varianten Front Assist. Ein Grund für diese massenhafte Verbreitung sind die geringen Kosten, die nachweisbar niedrigeren Unfallzahlen sowie last but not least das EuroNCAP-Ranking , das diese Ausrüstung verlangt.
Beim Passat arbeitet die City-Notbremsfunktion des Front Assist bis 50 km/h. Fährt der Fahrer in Richtung eines stehenden Hindernisses und zeigt keinerlei Reaktion, wartet das System bis zur letzten Sekunde ab, um dann eine Vollbremsung einzuleiten. Je nach Straßenzustand kann ein Zusammenstoß so abgemildert oder ganz verhindert werden.
Oberhalb von 50 km/h und bis zur Höchstgeschwindigkeit funktioniert Front Assist mit einer Warnkaskade. Fährt man etwa zu dicht auf, zeigt das Zentraldisplay zwei Autos mit wenig Abstand und einem Ausrufungszeichen. Einen Ton oder eine besondere Farbe gibt es nicht. Nennen wir das Stufe 1.
Erkennt Front Assist eine größere Gefahr, gibt es einen Warnton, ein rotes „Bremsen“-Symbol, und das Bremssystem wird auf maximale Wirkung vorkonditioniert („Prefill“). Das ist Stufe 2 von Front Assist. Bei Stufe 3 gibt es zusätzlich einen Warnruck, und erst in Stufe 4 erfolgt eine automatische Bremsung, die in Abhängigkeit der gefahrenen Geschwindigkeit bis zu (minus) 6 m/s2 erreicht. Dieser Wert liegt natürlich weit diesseits des maximal Möglichen, das wiederum nur bei der City-Notbremsfunktion genutzt wird.
Die Funktion genau verstehen lernen
Ein System wie Front Assist nimmt der Fahrer selten oder nie wahr; es arbeitet unauffällig im Hintergrund. Anders ist das bei ACC, das letztlich nur eine Erweiterung der Radarüberwachung darstellt. Es ist nun Aufgabe des Halters bzw. Fahrers zu verstehen, wo die Grenzen der jeweiligen Assistenzsysteme liegen: Was genau kann die Elektronik, und was kann sie nicht? Oder sind vielmehr die Verkäufer und Hersteller aufgefordert, wirklich alles haarklein zu erklären? Juristisch bleibt es dabei: Der Fahrer haftet.
Ein besonderes Risiko dabei ist paradoxerweise die scheinbar verlässliche Funktion. Wir haben uns daran gewöhnt, dass ACC unter fast allen Umständen perfekt ist – und vergessen gerne, dass die Überwachungspflicht durch den Fahrer weiter gilt.
Und Tesla? Hier hat man mit dem Begriff Autopilot wahrscheinlich eine übertriebene Erwartungshaltung erzeugt. Das kalifornische Unternehmen weist überall darauf hin, dass es sich um Komfortfeatures handelt, bei denen der Fahrer letztlich das Sagen hat und immer in der Verantwortung ist. Genau wie bei allen anderen Herstellern. Dennoch zeigen die kontroversen Diskussionen in den Foren, dass dieses Gesetz nicht von jedem verstanden worden ist. Einen Rückruf wird es sehr wahrscheinlich nicht geben. Aber anders als bei der Konkurrenz tragen regelmäßige Updates der Software zu einer Verbesserung bei.
Die Gratwanderung bei der Auslegung der Fahrautomatisierung ist also offensichtlich. Gehen die Hersteller zu weit, können Fehlfunktionen die gesamte Hilfselektronik diskreditieren. Und gehen sie nicht weit genug, zeigt ihnen der Wettbewerb die lange Nase. Es bleibt noch viel zu tun bis zum unfallfrei und autonom fahrenden Auto.
Erschienen am 15. Juni bei heise Autos.