Weltmeister, der Zweite

Der passt. Wer im neuen Nissan Leaf Platz nimmt, bekommt sofort den Eindruck eines harmonischen und in sich stimmigen Autos. Eine Wahrnehmung, die sich beim Fahren fortsetzt: Die zweite Generation des meist verkauften Batterie-elektrischen Autos der Welt lässt sich leicht und präzise steuern. Der Nissan fährt sich simpel und mühelos, er hat viel Kraft – und er ist mehrere Tausend Euro preisgünstiger als der direkte Konkurrent Volkswagen e-Golf.

Die japanischen Designer haben den neuen Leaf weniger polarisierend als den Vorgänger gestaltet. Er fügt sich in die Formensprache der Marke ein, und er verzichtet darauf, mit übertriebenen Elementen Aufmerksamkeit auf sich ziehen zu wollen. Diese Entdramatisierung hat dem Leaf gutgetan, er sieht einfach besser aus. Er hat seine Sonderstellung aufgegeben und dokumentiert damit optisch, dass er zuerst Auto und danach Elektroauto ist.

Und er ist groß: Mit 4,49 Meter Länge übertrifft er einen Volkswagen e-Golf um 22 Zentimeter. Ein Plus, von dem im Innenraum die Passagiere auf dem Rücksitz profitieren. Das Kofferraumvolumen beträgt nach VDA-Messung und mit Abdeckung 394 Liter (Testwagen in Tekna-Ausstattung: 385 l wegen des Bose-Subwoofers). Ein e-Golf fasst lediglich 341 Liter. Mit dem Modellwechsel ist der Leaf zwar je nach Variante ein bis zwei Zentimeter flacher geworden; die Kopffreiheit bleibt trotzdem großzügig.

40 kWh Batteriekapazität und fein abgestimmtes Fahrwerk

Mit der von zuletzt 30 auf jetzt 40 Kilowattstunden (kWh) gewachsenen Batteriekapazität ist auch die Motorleistung angestiegen: 110 Kilowatt (kW) stehen aus dem Nichts zur Verfügung. Genug für knapp acht Sekunden für den Standardspurt und eine Beschleunigung, die unaufhaltsam bis zur elektronisch limitierten Höchstgeschwindigkeit von 144 km/h weitergeht. Der Nissan Leaf fährt sich souverän und vibrationsfrei. So soll es sein, wenn man rein elektrisch unterwegs ist.

Auffällig ist die verbesserte Feinabstimmung: So ist die Balance in schnellen Kurven noch perfekter. Der Leaf bleibt sehr lange neutral, und obwohl die Verbundlenkerhinterachse keine aufwändige Konstruktion ist, sind hier keine Schwächen erkennbar. Die Traktion des vorderradgetriebenen Autos ist ebenfalls okay; allein der Wendekreis (Testwagen Tekna: 11,66 Meter / Versionen mit 16-Zoll-Rädern: 10,84 Meter) könnte kleiner sein.

Der Nissan Leaf steht exemplarisch für das sukzessive Gleichziehen der Batterie-elektrischen Autos mit konventionell angetriebenen Pkw: In der Gesamtbewertung werden Aspekte wie Platzangebot oder Fahrwerkskomfort wichtiger, weil die konzeptbedingten Abstriche des Elektroautos an sich kleiner werden. Das ist positiv, denn der Käufer sollte nicht in der Situation sein, den Wunsch nach dem Aus des Verbrennungsmotors mit diversen Nachteilen zu bezahlen.

Reichweite 200 bis über 300 Kilometer

Aber noch ist die Reichweite ein besonders wichtiger Punkt. Jeder Interessent muss für sich prüfen, ob die mögliche Aktionsdistanz mit dem eigenen Fahrprofil übereinstimmt. Nissan gibt für den Leaf Tekna 270 Kilometer Reichweite nach WLTP an (16-Zoll-Versionen: 285 km). Hierbei gilt es zu beachten, dass dieser Normwert nicht mit der schlichten Division der Batteriekapazität durch die Werksangabe des Stromverbrauchs (Tekna: 20,6 kWh / 100 km; 16-Zoll-Versionen: 19,4 kWh / 100 km) ermittelt wird, sondern das Ergebnis eines spezifischen Messverfahrens ist.

In der Wirklichkeit gelten die klassischen Grundsätze des Fahrens mit einem Batterie-elektrischen Auto: Je höher die Geschwindigkeit, desto höher der Verbrauch. Der Stromkonsum ist der Spiegel der Fahrwiderstände, und die sind auf der Autobahn wegen des Luftwiderstands am größten. Der durchschnittliche Realverbrauch des Nissan Leaf von 16,8 kWh auf 100 Kilometer (Onboardwert ohne Ladeverluste) ist also das Abbild eines gemischten Geschwindigkeitsprofils.

Der niedrigste Wert wurde mit 11,2 kWh im sonntäglichen Stadtverkehr erzielt. Auf der gleichen Strecke während der Rush-hour waren es 14,6 kWh. Im Überlandbetrieb lag der Verbrauch bei rund 13 kWh. Auf der Autobahn war die Spanne besonders groß: Am Pfingstsamstag führten zähfließender Verkehr und etliche Staus zu einem niedrigen Wert von 15,6 kWh. Einen Tag später bei freier Autobahn und dem Tempomat auf 120 km/h waren es knapp 18 und bei Richtgeschwindigkeit circa 20 kWh / 100 km.

Der Maximalwert von 22,4 kWh wurde bei einer Brachialfahrt über die Autobahn A1 von Hamburg Richtung Bremen angezeigt. Deren Ziel war nicht, zügig voranzukommen, sondern die Batterie so schnell wie möglich heiß zu fahren. Das gelingt besonders wirkungsvoll bei der Kombination aus sehr hoher Geschwindigkeit (= hohe Leistungsentnahme aus der Batterie) und ständigem Entschleunigen. Von 110 auf 144 km/h und zurück. Beim Rekuperieren, also dem Zurückgewinnen von Bremsenergie beim Verzögern über den Elektromotor, muss die Batterie hohe Leistungen aufnehmen. Dieser ungleichmäßige Fahrstil lässt den Akku schwitzen.

Wie wichtig ist #rapidgate?

Elektroauto-Fans und Kenner wissen, worum es geht: #rapidgate. Damit ist das Absinken der Ladeleistung- und damit der Ladegeschwindigkeit bei steigender Batterietemperatur gemeint. Der Nissan Leaf hat wie der Volkswagen e-Golf keine aktive Kühlung. Nach der ersten Etappe der Brutaltour war die volle Ladeleistung von rund 47 kW noch vorhanden. Beim zweiten Zwischenstopp dagegen brach sie auf knapp 16 kW ein. In beiden Fällen sollte von einem Ladestand (abgekürzt für State of Charge: SOC) von 30 Prozent auf SOC 80 Prozent geladen werden. Der zweite Versuch wurde mangels Geduld nach einer Stunde abgebrochen. Der Fahrer hat allerdings einen gewissen Einfluss auf die Temperatur: Bei gelassener und konstanter Fahrweise sank die Ladeleistung beim zweiten Ladestopp auf 31 und beim dritten auf 20 kW.

Mit dieser gezielten Reduktion will der Hersteller die Batterie thermisch schonen und so die Dauerhaltbarkeit steigern. Volkswagen verfolgt beim e-Golf eine nur etwas andere Strategie: Die Ladeleistung ist von Beginn an auf nominal 40 kW statt wie beim Leaf auf 50 kW beschränkt, was die Aufheizung verlangsamt. e-Golf-Besitzer berichten gegenüber heise Autos, dass sie bei aggressiver Fahrweise beim dritten Halt eine Beschränkung auf rund 25 kW hinnehmen müssen.

Für Interessenten, die ständig auf der Autobahn unterwegs sind, ist die Empfehlung, auf den Leaf mit mindestens 60 kWh großer Batterie und 150 kW Motorleistung zu warten. Der wird innerhalb des laufenden japanischen Fiskaljahrs – also bis zum 31. März 2019 – vorgestellt. Über den Mehrpreis im Vergleich zum aktuellen 40 kWh-Modell kann nur spekuliert werden. heise Autos hofft auf weniger als 5.000 Euro.

Und noch ein Einschub zur Temperatur: Wie der Vorgänger hat auch der neue Leaf eine detaillierte Anzeige des Energieverbrauchs. Hier lässt sich der Bedarf der Innenraumheizung- und Kühlung ablesen. Es ist immer wieder schön zu sehen, dass nach wenigen Metern die Leistungsanforderung auf unter 300 Watt fällt. Der Strombedarf ist so gering, dass Sparen sich nicht lohnt. Außerdem gilt: Wenn ein E-Auto eine Wärmepumpe hat, kommt es mit geringen Einbußen bei der Reichweite durch den Winter.

Acenta als empfehlenswerte Ausstattungslinie

Das ist bei Nissan Leaf ab der Ausstattungsversion Acenta der Fall. Dieses mittlere Level ist ohnehin besonders empfehlenswert. Hier ist wirklich alles drin, was man zum Autoleben mit Strom braucht: Die DC-Schnelllademöglichkeit nach dem japanischen Chademo-Standard, die AC-Lademöglichkeit mit 6,6 kW (nein, es ist nicht zu wenig), die Wärmepumpe, der Schalter für den One-Pedal-Mode (das e-Pedal haben wir nur selten genutzt), die adaptive Geschwindigkeitsregelung, das Navigationssystem und, und, und. Als Acenta kostet der Leaf ab 35.600 Euro, wovon auf absehbare Zeit 4.000 Euro Prämie abgezogen werden können. Es bleiben 31.600 Euro für einen komplett ausgestatteten Pkw.

Zum Vergleich: Ein Volkswagen e-Golf mit 36 kWh Batteriekapazität ist ab 35.900 Euro zu haben. Addiert man die wichtigsten Optionen wie die DC-Ladefähigkeit, die Wärmepumpe und das AC-Ladekabel, landet man bereits bei 37.675 Euro, und wenn man alles in den Volkswagen bestellt, was im Nissan schon vorhanden ist, kommen noch viele Euros oben drauf. Der Leaf ist im Vergleich zum e-Golf das mindestens genauso gute Auto und der bessere Kauf.

Der Testwagen mit Vollausstattung kam auf einen Bruttolistenpreis von 40.900 Euro minus 4.000 Euro E-Prämie gleich 36.900 Euro. Erwähnenswert beim Tekna sind der praktische Around View Monitor (Acenta: 650 Euro Aufpreis), die LED-Scheinwerfer und die Erweiterung der Fahrassistenzsysteme im ProPilot. Letzterer steigert den Komfort und die Sicherheit und kommt vor allem auf der Autobahn zum Einsatz: Der Stauassistent oder die intelligente Spurhaltung liegen auf einem Niveau mit einer Mercedes E-Klasse. Das bedeutet, dass sie den Fahrer entlasten, aber durch eine Warnkaskade weiterhin dazu zwingen, die Hand am Lenkrad zu lassen.

Zusammengefasst lässt sich sagen, dass der Nissan Leaf in der zweiten Generation richtig gut geworden ist. Eine runde Sache, bei der man die Nachteile intensiv suchen muss. Allein die eingeschränkte Langstreckentauglichkeit ist erwähnenswert. Wer darauf großen Wert legt, sollte bis 2019 auf den Long-Range-Leaf warten.

Erschienen am 24. Mai bei heise Autos.

Bildquelle: Christoph M. Schwarzer

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