Im risiko-minimalen Zustand

Ohnmacht. Infarkt. Sekundenschlaf. Wir können die Kontrolle über das Auto verlieren. Um die Folgen eines schweren Aussetzers abzumildern, kann ein Notfallassistent das Fahrzeug bis zum Stillstand abbremsen. Bei Volkswagen zum Beispiel wird das System als Teil des Fahrassistenz-Pakets „Plus“ im Touran angeboten. Dort heißt es Emergency Assist, und es verdient unsere Aufmerksamkeit, weil es die Vorstufe zur Herstellung des so genannten risikominimalen Zustands ist. Dieser Begriff und der Zusammenhang mit den verschiedenen Stufen der Fahrautomatisierung sind erklärungsbedürftig.

Zuerst aber: Was macht Emergency Assist? Der elektronische Wächter erkennt, wenn der Fahrer den Wagen nicht mehr steuert, also weder bremst noch beschleunigt noch lenkt. Reagiert er auch auf einen gezielten Bremsruck nicht, wird das Auto über den Spurhalteassistenten (Volkswagen: Lane Assist) und den adaptiven Tempomaten (ACC) zum Stillstand gebracht. Damit andere Verkehrsteilnehmer die Gefahr erkennen, ist die Warnblinkanlage dabei eingeschaltet. Wer sich die Funktionsweise anschauen will, kann hier klicken.

Werfen wir jetzt einen Blick auf die Evolutionsstufen der Fahrautomatisierung. Es gibt hier zwar keine internationale gesetzliche Normierung, aber einen inhaltlichen Konsens. So sind die Beschreibungen der US-amerikanischen Society of Automotive Engineers (SAE) und der Bundesanstalt für Straßenwesen (BASt) nahezu identisch.

Überwachungspflicht bis zur Teilautomatisierung

Auf dem ersten Level der Fahrassistenz übernimmt der Fahrer dauerhaft die Längs- (Gas geben, bremsen) ODER Querführung (Lenkung). Die jeweils andere Aufgabe erledigt ein elektronisches System, wobei es jederzeit überwacht werden muss und die Verantwortung immer beim Fahrer liegt. Ein Beispiel dafür ist ein adaptiver Tempomat: Er macht die Längsführung, während der Mensch steuert, also die Querführung übernimmt. Ein anderes Beispiel mit umgekehrten Vorzeichen: Bei einem Einparkassistenten dreht die Elektronik das Lenkrad, während der Fahrer Gas und Bremse bedient.

Viele Autos sind heute einen Schritt weiter und können mit einer teilautomatisierten Unterstützung bestellt werden. Hierbei übernimmt ein System Längs- UND Querführung. Es kann also für eine spezifische Situation zugleich lenken und Gas geben und bremsen. Ein Staufolgeassistent, etwa bei Mercedes, arbeitet so und auch der Autopilot bei Tesla.

Bei der Teilautomatisierung gilt ebenfalls: Der Fahrer ist permanent in der Pflicht, das System zu überwachen; er muss jederzeit bereit sein, die Fahrzeugführung vollständig zu übernehmen. Wer dem Autopilot seines Tesla Model S voll vertraut – Herr Kollege, bitte nach vorne schauen, nicht in die Kamera! –, sollte sich darüber im Klaren sein, dass er zu jeder Sekunde voll in der Verantwortung und in der Haftung ist. Abseits von Autobahnen und Highways, wo es Fußgänger und Ampeln und enge Kurven gibt, geraten diese Systeme leicht an ihre Grenzen.

Fraglos wird der schnelle Fortschritt bei Soft- und Hardware zügig für Verbesserungen sorgen. Der entscheidende qualitative Sprung erfolgt aber erst beim Wechsel von der Teil- auf die Hochautomatisierung.

Der „Autobahn-Chauffeur“ kommt als Erstes

Bei der Hochautomatisierung kann ein Hilfssystem in einer spezifische Aufgabe oder Situation die Quer- und Längsführung übernehmen, wobei der Fahrer NICHT permanent die Oberaufsicht übernehmen muss. Die BASt redet hier etwa vom Autobahn-Chauffeur. Überhaupt, auf A7 und A2 ist alles einfacher. Alle fahren in eine Richtung, und außer Pkw, Lkw und Motorrädern gibt es keine anderen Verkehrsteilnehmer. Das ist vergleichsweise simpel.

Erkennt das System aber, dass es überfordert ist, wird der Fahrer zur Rückübernahme aufgefordert. Dafür soll eine angemessene Zeitreserve eingebaut werden – wie lang diese sein muss, wird zurzeit hinter den Kulissen heiß diskutiert. Wie lange brauchen Sie, um ein Tablet beiseite zu legen oder aus schummrigem Dösen auf höchste Aufmerksamkeit umzuschalten? Klar ist jedenfalls, dass das System eigene Grenzen wahrnimmt und nicht in der Lage ist, aus jeder Ausgangssituation den – da ist er wieder – risikominimalen Zustand herzustellen.

Hochautomatisierte Autos beherrschen den risikominimalen Zustand

Das passiert erst mit der Vollautomatisierung. Auch hier übernimmt das Auto nicht alle Funktionen, es ist also noch nicht autonom. Dennoch kann es innerhalb eines definierten Anwendungsfalls die Längs- und Querführung komplett übernehmen.

Ist es aus irgendwelchen Gründen überfordert, kann es darüber hinaus – das ist die Abgrenzung zum hochautomatisierten Fahren – aus jeder Ausgangssituation den risikominimalen Zustand herstellen.

Das beste Beispiel ist wieder die Autobahn. Die BASt spricht nun nicht mehr vom Autobahn-Chauffeur, sondern vom Autobahn-Piloten. Er erledigt alles, und wenn er das nicht mehr kann und der Fahrer nicht auf eine Rückübernahmeaufforderung reagiert, stellt die Elektronik den risikominimalen Zustand her.

Der sieht wie eine Weiterentwicklung des Emergency Assist von Volkswagen aus: So ist vorstellbar, dass ein Auto im Notfall nicht einfach bis zum Stillstand abbremst, sondern auf den Standstreifen fährt.

Es ist offensichtlich, dass die Fahrautomatisierung mit einer Geschwindigkeit vorankommt, die alle Prognosen, nach denen wir erst 2030 das Steuer abgeben könnten, zu pessimistisch erscheinen lässt. Die Hardware verbilligt sich schon. So kostet der radargestützte adaptive Tempomat ACC in einem Touran nur noch 270 Euro. Und die Software tut im Zusammenspiel mit verbesserter Rechnerleistung das Übrige. Kommen nun noch hochgenaue Karten dazu – es ist kein Zufall, dass Audi, BMW und Daimler jüngst HERE gekauft haben – wächst die Basis für die finale Stufe, nämlich das autonome Auto wie etwa ein Robotertaxi.

Bei vielen Menschen weckt diese Entwicklung starkes Misstrauen. Überall Elektronik. Überall Vernetzung. Überall Datensammelei. Wer so fühlt, hat zwei Alternativen: Erstens das Abschalten. Und zweitens den Gebrauchtwagen. Sichern Sie sich einen Golf II oder ein anderes Auto aus der vollmechanischen analogen Ära, falls Ihnen das alles unheimlich ist.

Bildquelle: Volkswagen

Erschienen am 2. Februar bei heise Autos.

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