Das Aus der Schwungmasse

Beim nächsten Mal wird alles besser. Versprochen. Das neue Messverfahren Worldwide Harmonized Light-Duty Vehicles Test Procedure, abgekürzt WLTP, soll zu realistischeren Normverbrauchswerten führen. Wie nötig das ist, hat eine Massenuntersuchung des ICCT gezeigt, nach der die Abweichung zwischen Prospektideal und Straßenwirklichkeit beim gültigen NEFZ mit jedem Zulassungsjahr anwächst. Von acht Prozent bei Autos mit einem Erstzulassungsdatum von 2001 auf 38 Prozent in 2014. Übersetzt: Die Hersteller haben die Schwächen des NEFZ immer klüger ausgenutzt. Mit der Einführung des WLTP aber wird mindestens ein Einfallstor für die ganz legale Irreführung geschlossen – die Schwungmassenklasse wird abgeschafft.

Wie überfällig das Aus der Schwungmassenklasse ist, zeigt der Blick ins Detail.

Im aktuellen Neuen Europäischen Fahrzyklus (NEFZ) wird unter festgelegten und damit reproduzierbaren Laborbedingungen ein bestimmtes Geschwindigkeitsprofil abgefahren. Es ist mit 1180 Sekunden knapp 20 Minuten lang und führt über elf imaginäre Kilometer. Die physikalischen Widerstände des Autos werden durch den Rollenprüfstand simuliert. Und für dessen korrekte Einstellung ist die so genannte Bezugsmasse ein wesentlicher Faktor.

Verrenkungen der Hersteller

Die Bezugsmasse ergibt sich zurzeit aus dem Leergewicht des Fahrzeugs plus einer generellen Addition von 25 Kilogramm (kg). Das Leergewicht wiederum ist inklusive einem 75 Kilogramm schweren Fahrer, betriebsbereitem Auto, 90 Prozent Tankfüllung, aber ohne jede Zusatzausstattung festgelegt.

Diese Definition des Leergewichts erklärt etliche Verrenkungen der Autohersteller. So kann bei einem Volkswagen Golf die Klimaanlage abbestellt werden. Diverse Mercedes-Modelle haben einen mickrigen Kraftstofftank, der gegen Mehrpreis einem klassenüblichen Format weicht. Und der selige Audi A2 3L war in zwei Versionen zu haben – die mit dem kleineren CO2-Ausstoß war nicht mit geteilt umlegbarer Rückbank bestellbar, was ein paar Gramm Ballast gespart hat. Entscheidend ist, der Vorgabe des NEFZ folgend, die nackte Basis eines Autotyps.

Nehmen wir beispielhaft an, dass ein Hersteller ein Auto mit einem Leergewicht von 1.395 kg baut. Das ist nah am Durchschnitt aller in der EU verkauften Autos (2014: 1.391 kg). Wohl gemerkt, inklusive Fahrer sowie Kraftstoff und exklusive Mehrausstattung. Dazu addieren sich nun pauschal 25 kg, woraus sich eine Bezugsmasse von 1.420 kg ergibt.

Jetzt kommen die Schwungmassenklassen ins Spiel. Denn auf dem Prüfstand wird nicht der Widerstand für exakt diese Bezugsmasse, sondern der für die entsprechende Schwungmassenklasse eingestellt.

Die grobe Einteilung geht auf eine Charakteristik früherer Leistungsprüfstände zurück. So fallen alle Autos mit einer Bezugsmasse von 965 bis 1080 kg in eine gemeinsame Schwungmassenklasse. Die nächste reicht von 1080 bis 1190 kg. Die übernächste von 1190 bis 1305 kg. Und die in unserem Beispiel von 1305 bis 1420 kg.

Einheitliche Schwungmasse bei unterschiedlichen Gewichten

Bleiben wir beim Korridor von 1305 bis 1420 kg. Alle Autos, deren Bezugsmasse in diesem Bereich liegen, werden nun mit der gleichen „äquivalenten Schwungmasse“ von 1360 kg gemessen. Hier liegt also der Fehler. Das heißt: Für die Hersteller ist es im Sinn niedriger Normverbrauchswerte attraktiv, ein Fahrzeug so zu bauen, dass es oberhalb der äquivalenten Schwungmasse, aber noch in der gleichen Klasse bleibt. Nochmal als Wiederholung: Das durchschnittliche Leergewicht aller 2014 in der EU zugelassenen Pkw lag bei 1391 kg. Plus einer pauschalen Zuladung von 25 kg ergibt sich also eine Bezugsmasse von 1416 kg.

Wir gehen in unserer Rechnung von einer Punktlandung bei 1395 kg Leergewicht und damit einer Bezugsmasse von 1420 kg aus. Also genau am oberen Ende der Schwungmassenklasse. Auf dem Prüfstand wird dieses Auto so behandelt, als würde es nur 1360 kg wiegen.

Mit diesem Unsinn ist Schluss, sobald der WLTP gilt.

Das gleiche Auto, das eben noch den Widerstand für 1360 kg überwinden musste, bekommt in Zukunft 153 kg mehr auf die Rippen.

Plötzlich 153 kg schwerer

Wie geht das? Zum einen natürlich durch die ersatzlose Streichung der Klassen. Es wird nach Kilogramm eingeteilt, fertig. Das Leergewicht von 1395 kg wird um einen Pauschalwert von 25 kg sowie einer Zusatzausstattung von weiteren 25 kg erhöht. Daraus errechnet sich eine Bezugsmasse von 1445 kg im WLTP.

Neu ist darüber hinaus, dass auch das zulässige Gesamtgewicht berücksichtigt wird. Nehmen wir für unseren Fall 1900 kg an, woraus sich eine Zuladung von 455 kg ergibt. Der WLTP definiert nun, dass 15 Prozent dieser Zuladung auch genutzt werden, in diesem Fall also 68,25 kg. Addiert man die Bezugsmasse von 1445 kg zu diesem Wert, kommt man abgerundet auf 1513 kg. Die Testmasse des Wagens ist also von 1360 um 153 auf 1513 kg angewachsen – nicht, weil er tatsächlich schwerer geworden wäre, sondern allein weil der WLTP hier eine Lücke des NEFZ schließt.

Fachleute gehen davon aus, dass dieser Unterschied einer der drei wichtigen Schwächen des NEFZ ist, die durch den WLTP beseitigt werden. Die anderen beiden: Das Fahrprofil selbst wird im WLTP schärfer, und die Schaltpunkte werden nicht mehr statisch vorgegeben. Dazu kommen als ebenfalls relevante, aber nicht ganz so wirksame Änderungen die Einschränkung der Batterieladung sowie der Ersatz des Temperaturfensters von „20 bis 30 Grad“ durch einen Fixpunkt bei 23 Grad.

Noch ist der WLTP nicht in Kraft. Und leider steht inzwischen fest, dass das „W“ für worldwide nur teilweise gilt, weil die USA nicht mitmachen. Dem Vernehmen nach sind die USA aber nicht wegen vermeintlich zu harter Testbedingungen aus dem WLTP ausgestiegen. Sondern wegen zu lascher. Es bleibt also abzuwarten, wie gut der WLTP wirklich wird.

Quelle Symbolfoto: BMW

Erschienen am 10. März bei heise Autos.

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