Der Kraftverteiler

Dass Audi etwas baut, was Tesla nur ankündigt, bedeutet nicht weniger als Vorsprung durch Technik. Die Marke, die den Quattro definiert hat, könnte jetzt mit einer Neuinterpretation des Allradantriebs zur Glaubwürdigkeit zurückfinden: Die Batterie-elektrischen Modelle e-tron und e-tron Sportback mit dem Zusatz S haben drei statt zwei Elektromotoren. Die Boostleistung beträgt 370 kW und das maximale Drehmoment 973. Pure Geradeausbeschleunigung aber ist etwas für den Drag Strip. Beim e-tron S geht es um Querdynamik und Fahrsicherheit: Die beiden Elektromotoren an der Hinterachse ermöglichen das Torque Vectoring mit aktiver und vollvariabler Momentverteilung.

Dieses Prinzip hatte Audi bereits 2015 in der Studie Quattro Concept gezeigt. Tesla nennt dreimotorige Prototypen Plaid – nach Ludicrous eine weitere Reminiszenz an den Film Space Balls –, beschränkt sich jedoch vorerst aufs Experimentieren. Audi dagegen will in die Großserie. Wann genau sagen die Ingolstädter auf dem Genfer Autosalon. Zeitnah, das ist klar. Und es ist offensichtlich, dass ein elektronisch gesteuertes und quasi virtuelles Sperrdifferential auch zu Porsche gut passen würde.

Die im Vergleich zum normalen e-tron gesteigerte Motorleistung verkürzt die Sprintzeit auf 100 km/h von 5,7 auf 4,5 Sekunden. Die S-Modelle sollen besonders beim Beschleunigen aus engen Kurven agiler sein und eine bessere Traktion haben, wobei die Grundauslegung heckbetont ist. Mit dem ESP auf „Sport“ und dem Fahrdynamiksystem auf „dynamic“ sind auch kontrollierte Drifts machbar.

Den e-tron umgedreht

Audi dreht den e-tron gewissermaßen um: Der Asynchronmotor, der im gewöhnlichen e-tron an der Hinterachse sitzt, arbeitet im e-tron S vorne und leistet 124 kW bzw. 150 kW im Boost. Umgekehrt sitzt der kleinere Elektromotor jetzt hinten, hat allerdings ein baugleiches Pendant Rücken an Rücken montiert, woraus sich 196 kW bzw. 264 kW im Boost ergeben. Jeder der zwei Elektromotoren an der Hinterachse hat eine eigene Leistungselektronik und überträgt seine Kraft über ein Planetengetriebe mit fester Übersetzung ans jeweilige Rad; die Rotorwellen sind flüssigkeitsgekühlt.

Der vordere E-Motor ist achsparallel eingebaut. Im Normalfall ist er stromlos. Der e-tron S fährt also nur mit Heckantrieb. Sobald mehr Leistung gefordert wird, wenn die Reibwerte zu wenig Grip anzeigen oder bei schneller Kurvenfahrt schaltet sich der Vorderachsmotor zu. Der Clou am e-tron S ist natürlich das elektrische Torque Vectoring an der Hinterachse: Die Differenz zwischen den beiden Rädern kann bis zu 220 Nm betragen. Berechnet man die Übersetzung der Planetengetriebe mit ein, ergibt sich an den Hinterrädern ein Unterschied von sogar 2.100 Nm. Die Reaktionszeit der Kraftverteilung soll ein Viertel eines mechanischen Systems betragen.

Durch diese gesteuerte Kraftverteilung entsteht ein Giermoment, dass das Einlenkverhalten verbessert. Zudem ist für den gleichen Kurvenradius ein geringerer Lenkwinkel erforderlich. Die Agilität steigt und die Traktion auch – das ist ein Sicherheitsvorteil. Bei Glätte zum Beispiel kann das Rad, das noch haftet, nahezu das komplette Antriebsmoment erhalten. Dass alle diese Prozesse vom Fahrer unbemerkt ablaufen, ist selbstverständlich.

Aufwändiges Temperaturmanagement

Der Rest des e-tron S gleicht weitgehend dem e-tron. Die Batterie zum Beispiel hat wie gehabt eine Kapazität von netto 86,5 kWh (brutto 95 kWh) und kann kurzfristig 430 kW bereitstellen. Die Nennspannung liegt bei 397 Volt. Das Batteriesystem ist aus 36 Modulen zu je zwölf Zellen aufgebaut und hat eine Grundfläche von 2,28 Meter Länge sowie 1,63 Breite. Unter der Rücksitzbank liegen die Module doppelt gestapelt, woraus eine Höhe von 34 Zentimetern resultiert. Bekannt ist diese Audi-Batterie vor allem durch das aufwändige Kühlsystem mit vier getrennt regelbaren Kreisläufen. Das führt zu einer hohen thermischen Stabilität. Kein Batterie-elektrisches Auto kann so lange eine hohe Ladeleistung von fast 150 kW halten wie der Audi e-tron.

Wie üblich bei Sportvariationen bekommen auch der Audi e-tron S sowie der e-tron S Sportback optische Modifikationen: Die Radhäuser etwa sind um 23 Millimeter verbreitert, was sich kaum negativ auf die Aerodynamik niederschlägt. Der Luftwiderstandsbeiwert beim Sportback beträgt cW 0,26 (e-tron: 0,28), und der Kühllufteinlass ist steuerbar. Er bleibt so oft wie möglich geschlossen und hat Kanäle zur Kühlung der Scheibenbremsen vorne. Die wiederum müssen nicht allzu oft tätig werden, weil die Rekuperationsleistung der Elektromotoren bei 270 kW liegt.

Die Top Down-Strategie der deutschen Hersteller wird hoffentlich in diesem Fall wirken. Ein elektronisch gesteuertes Torque Vectoring im Batterie-elektrischen e-tron S ist ein Dynamik- und Sicherheitsgewinn, der auch für andere Fahrzeugsegmente sinnvoll wäre. Und dass Audi als erstes Unternehmen damit in die Großserie geht, ist eine gute Nachricht. Die Marke mit den vier Ringen ist wieder da.

Erschienen bei heise Autos.

Bildquelle: Audi

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