Anschnallgurt, Airbag, ESP: Sicherheitssysteme sollen die Zahl der Verkehrstoten auf null senken. Das ist ein weiter Weg – 1.465 Menschen sind im ersten Halbjahr 2019 auf deutschen Straßen ums Leben gekommen, dazu addieren sich 178.544 Verletzte. Viel weniger als früher, viel zu viel für die Betroffenen. Um die Verkehrssicherheit wieder ein Stück zu steigern, kommt jetzt die Car2X-Kommunikation: Autos „sprechen“ miteinander oder mit der Infrastruktur wie den Ampeln. Die Car2X-Kommunikation hat endlich den Weg von den Feldversuchen in die Großserie geschafft.
Vereinfacht gesagt hat ein Car2X-fähiges Auto eine Art WLAN-Router, der eine Reichweite von etwa 800 Metern hat und mit Höchstgeschwindigkeit Daten senden und empfangen kann. Eine Lösung, die die Telekommunikationsanbieter überflüssig macht. Das kommende 5G-Netz wird für Car2X nicht oder nur als Ergänzung gebraucht. Es ist darum wenig verwunderlich, dass die Mobilfunkbetreiber aggressiv gegen die fahrzeuginterne Lösung lobbyiert haben, weil ihnen neben dem direkten Verdienst auch eine weitere Möglichkeit des Datensammelns entgeht. Bei Car2X dagegen werden alle Daten anonymisiert und nur kurz gespeichert.
Marktdurchdringung als Voraussetzung für den Erfolg
Von der positiven Wirkung der Car2X-Kommunikation sind Fachleute überzeugt: „Car2X hat das Potenzial, die Zahl der schweren Unfälle und Verkehrstoten weiter zu senken“, sagt Professor Andre Seeck. Der Leiter der Abteilung Fahrzeugtechnik an der Bundesanstalt für Straßenwesen (BASt) war bis 2014 auch Präsident von EuroNCAP. Dieser Verein vergibt für die Crashsicherheit, die neben der von Insassen längst auch die von Fußgängern und Radfahrern prüft, öffentlichkeitswirksam bis zu fünf Sterne. Weniger bekannt ist, dass die Vorgaben für die Maximalpunktzahl jährlich verschärft werden; ein Auto, das heute fünf Sterne bekommt, ist ungleich besser als ein zehn Jahre altes mit damaligem Topranking. Seeck ist weiterhin bei EuroNCAP involviert und erklärt: „Wir nehmen Car2X ab 2024 mit in die Sicherheitsbewertung bei EuroNCAP auf.“
Allerdings sei die Voraussetzung für einen Erfolg „die Marktdurchdringung sowie die Erweiterung der Funktionen von Car2X“, so Professor Seeck. Es liegt auf der Hand, dass eine Informationsweitergabe über 800 Meter nur funktioniert, wenn dort auch ein empfangsbereites Auto fährt. Für die Verbreitung von Car2X spricht, dass Volkswagen das System serienmäßig in jedem Golf 8 einbaut, der ab Dezember ausgeliefert wird, und auch der Batterie-elektrische ID.3 bekommt es ohne Aufpreis. Und der Golf ist das meistverkaufte Auto in der EU.
Warnen und informieren
Thomas Biehle, Leiter „Kooperative Sicherheit“ bei Volkswagen, erklärt im Gespräch mit ZEIT ONLINE die Funktion von Car2X. Passive Sicherheitssysteme wie Airbags greifen erst bei einem Unfall – diese Form schon früher. Und ein Radar kann verdeckt sein, eine Kamera blind. Die Datenübertragung arbeitet im Gegensatz dazu auch bei Hindernissen und kann quasi durch mehrere Fahrzeuge hindurchsehen: „Der erste Schritt im Golf ist das Informieren und Warnen. Ich lerne aus dem Verhalten anderer“, so Biehle. Ein Liegenbleiber zum Beispiel kann ein virtuelles Warndreieck in das Cockpit eines Fahrzeugs einblenden, das noch nicht in Sichtweite ist. Eine starke Bremsung am Stauende kann weit „nach hinten“ weitergegeben werden. Bei instabilem Fahrverhalten – wenn etwa ein Auto in einer glatten Kurve ins Schleudern kommt – kann auch das als Warnhinweis kommuniziert werden.
„Sondereinsatzfahrzeuge wie Rettungswagen könnten in Zukunft ebenfalls eine digitale Warnung auslösen“, erklärt Thomas Biehle von Volkswagen. Branchenkenner berichten, dass auch die Polizei in Ländern und Bund plant, Car2X zu installieren. Die Baustellensperranhänger, die rund drei Jahre halten, bis jemand hineinfährt, bekommen die Lösung wohl ebenso. Und die so genannten Dachbalkenhersteller arbeiten an der Integration, um eine Nachrüstung für Spezialfahrzeuge zu ermöglichen.
Viel Sinn würde es auch ergeben, wenn Ampeln eine Kommunikationseinheit hätten. Sie könnten automatisch auf Rot geschaltet werden, wenn sich Einsatzfahrzeuge nähern. Es braucht nur wenig Fantasie, um sich weitere Zwecke vorzustellen: Rotlichtverstöße könnten technisch verhindert werden. Wechselverkehrszeichen für die Geschwindigkeit würden weniger leicht übersehen werden. Ein Entwickler und Zulieferer der Car2X-Boxen ist die Firma NXP Semiconductors in Hamburg: Hier geht man von noch zweistelligen Kosten pro Einheit aus. Eine Investition, die sich gerade bei der Verkehrsinfrastruktur lohnen würde.
Umweltnutzen durch Ampelschaltung
Nicht nur die Sicherheit profitiert von Car2X, meint Professor Stefan Bratzel vom Center Automotive Management (CAM) in Bergisch-Gladbach: „Sicherheit hat zwar immer auch einen Imagewert“, so Bratzel. „Ich finde außerdem die Idee faszinierend, dass ein Auto nachts eine grüne Welle schalten kann, falls wenig Betrieb ist.“ Fließender Verkehr ist ein Umweltvorteil. Der entsteht auch beim so „Platooning“ von Lkw: Das Wort beschreibt das dichte Windschattenfahren von Lastern auf der Autobahn, also mit sehr wenig Abstand. Der Dieselverbrauch und die CO2-Emissionen sinken, ohne dass das Risiko steigt.
Der serienmäßige Einbau von Car2X in ein Massenauto ist ein pragmatischer Ansatz zur Steigerung der Verkehrssicherheit. Der dahinterstehende EU-Standard namens WLANp ITS G5 könnte sich durch die Marktmacht des Volkswagen-Konzerns durchsetzen, weil andere Hersteller mitziehen müssen. Dass das konkurrierende 5G-Netz der Mobilfunkanbieter bestenfalls eine Zusatzlösung wird, ist für die Menschen kein Nachteil: Car2X im Auto verbreitet sich einfach schneller als 5G-Funkmasten, und es kostet weniger.
Erschienen bei ZEIT ONLINE.