Ein Alleinstellungsmerkmal ist eine feine Sache. Bei NIO sind es die Power Swap Stations (PSS): An acht deutschen Standorten können die Traktionsbatterien der Elektroautos getauscht werden. In Zusammenarbeit mit dem Energieunternehmen EnBW soll es bald bis zu 20 PSS geben. Bis Ende des Jahrzehnts könnten es 40 sein: In rund sechs Minuten wechselt ein Roboter den leeren Speicher gegen einen vollen. NIO hat es geschafft, mit diesem Unique Selling Point (USP) viel Aufmerksamkeit zu generieren. Die universelle Lösung für die große Reise mit dem Elektroauto ist der Battery Swap mit großer Wahrscheinlichkeit trotzdem nicht.
In hohen Zulassungszahlen hat sich die Option zum Batterietausch jedenfalls bisher nicht gezeigt. NIO vermeldet für August 19.329 Auslieferungen – weltweit, wohlgemerkt. In Deutschland waren es lediglich 411 Exemplare. Insgesamt sind seit Jahresbeginn 755 NIO neu auf unsere Straßen gerollt.
Nur in Kombination mit Batteriemiete
Nach heutigem Stand sind die Elektroautos der jungen Firma aus China also eine Rarität. Eine Ursache dafür ist der Preis: Ein mit dem Tesla Model 3 vergleichbarer NIO ET5 kostet 47.500 Euro. Darauf addiert sich eine monatliche Rate von 169 Euro für Battery as a Service (BaaS). Diese Batteriemiete ist die Voraussetzung, um am Tauschsystem teilnehmen zu können.
Will der Kunde die Traktionsbatterie kaufen, muss er für die Basisversion 12.000 Euro bezahlen. Die WLTP-Reichweite liegt für 75 Kilowattstunden (kWh) Energieinhalt mit einer Mischung aus LFP- und NMC-Zellen bei mageren 456 Kilometern (km).
Wer 100 kWh haben will, muss entweder 289 statt 169 Euro pro Monat oder 21.000 statt 12.000 Euro für den Kauf zusätzlich zahlen. Macht in Summe 68.500 Euro. Die 590 Kilometer Reichweite nach WLTP sind nicht viel mehr als die 554 km, die ein Tesla Model 3 in der Grundversion des Model 3 Highland mit 18 Zoll-Felgen angibt. Und das gerade überarbeitete Model 3 kostet, wenn man den so genannten Umweltbonus nicht einrechnet, 45.667,50 Euro. Da wird die Wahl eng.
Große Lücken im Netz
So what, werden einige Neugierige sagen, die Höhe der Leasingrate bei NIO interessiert mich nur bedingt. Im Gegenzug gibt es schließlich das Versprechen auf die sorgenfreie Langstrecke. Das wird allerdings bisher weder in Ostdeutschland eingehalten noch im Norden. Das Netz hat große Lücken. Was nicht ist, kann natürlich noch werden.
Und es ist durchaus faszinierend, was die Ingenieure konstruiert haben: Der Mensch bleibt beim Batterietausch im Elektroauto sitzen. Nach dem Einparken auf einem definierten Haltepunkt geht es in die eigentliche Tauschstation hinein. Den Rest erledigt ein Roboter. Im Hintergrund warten die frisch geladenen Speicher im so genannten Battery Hotel. Je nach Ausbaustufe können es zehn und mehr Traktionsbatterien sein, die hier lagern.
Vermeidung teurer Lastspitzen
An dieser Stelle gibt es für den Anbieter auch den einzigen betriebswirtschaftlichen Vorteil: Je nach Nachfrage ist es möglich, die Traktionsbatterien im Lager zu einem Zeitpunkt zu laden, an dem der Strom preisgünstig ist. Teure Lastspitzen, die an konventionellen Ladeparks ohne Pufferspeicher entstehen, können so vermieden werden.
Überhaupt sollte niemand vergessen, dass es selbstverständlich möglich ist, jeden NIO an einer schnellen DC-Ladesäule (DC für Direct Current, Gleichstrom) per Kabel mit Strom zu versorgen. Die Werksangabe für die Ladezeiten sind mittelmäßig bis unterdurchschnittlich: Für den Standardhub von zehn auf 80 Prozent vergehen laut Werk in der 100 kWh-Version 40 Minuten und in der 75 kWh-Version 30 Minuten. Der erste Wert ist in dieser Klasse nicht mehr konkurrenzfähig, der zweite entspricht dem typischen Standard.
Die Ladegeschwindigkeit steigt
Eine ebenfalls vergleichbare Limousine wie ein Hyundai Ioniq 6 liegt bei 18 Minuten. Das ist die Messlatte. Und CATL, der internationale Marktführer bei der Produktion von Traktionsbatterien, beginnt zum Jahresende mit der Produktion einer 4C-fähigen LFP-Batterie. Übersetzt: Der Hub von zehn auf 80 Prozent dauert nur zehn Minuten, und das wird mit der robusten und preisgünstigen LFP-Zellchemie erreicht. Es ist eine der wirklich guten Nachrichten aus der Welt der Elektromobilität, dass so hohe Ladegeschwindigkeiten bis Ende des Jahrzehnts eher das Übliche als die Ausnahme sein werden.
Die Angabe für die Ladezeit von zehn auf 80 Prozent ist ein Vergleichsmaßstab. Er bedeutet keineswegs, dass man tatsächlich so lange an der Säule steht. Vielmehr ist es der Routenplaner, der in jedem anständigen Elektroauto ausrechnet, wie viele Minuten der Fahrer mindestens laden sollte, um optimal zum Ziel zu kommen. Es wird nicht mehr mitgenommen und nicht länger gewartet, als notwendig ist.
Absehbar kein oder zu geringer Zeitgewinn
Windschlüpfige Limousinen wie der Hyundai Ioniq 6 brauchen im Regelfall weniger als eine Viertelstunde. Im Praxistest mit einem Mercedes EQE waren es unter günstigen Bedingungen immer unter zehn Minuten. Die Kombination aus optimaler Aerodynamik, großer Traktionsbatterie und niedrigem Stromverbrauch macht die Langstrecke schon jetzt unproblematisch.
Wozu also noch den Battery Swap? Fürs Gefühl ist das sicher eine gute Sache. Rational betrachtet aber gibt es zu viele Gegenargumente.
Das Wichtigste ist, dass die Ladezeiten im Vergleich zum heutigen Standard nochmals deutlich absinken werden. Siehe oben. Auf den Charts der Autoindustrie ist seit Jahren 4C oder 5C für die zweite Hälfte des Jahrzehnts zu lesen, also zehn oder gut acht Minuten für den Standardhub. Im Ergebnis wird es schlicht keinen oder einen zu geringen Zeitvorteil für den Batterietausch geben.
Proprietär und nicht sinnvoll skalierbar
Der Batterietausch wiederum verursacht extreme Kosten: Das wertvollste und kostenintensivste Bauteil im Elektroauto muss mehrfach vorgehalten werden. Die Kunden werden sich genau überlegen, ob sie bereit sind, dafür direkt oder indirekt zu zahlen. Das, was im Marketingsprech Battery Hotel heißt, ist ein teures Ressourcenlager oder zugespitzt formuliert Materialverschwendung.
Hinzu kommt, dass es keine Standardisierung in der Autoindustrie geben wird. Vielleicht würden sich Ansätze von einzelnen Konzernen finden, um bestimmte Gruppen von Autotypen mit gleichen Batteriesystemen zu bestücken. Faktisch aber sind die PSS von NIO ein proprietäres System.
Was zusätzlich ins Geld geht, ist der Flächenbedarf: Die Swap Stations an den Autobahnen müssen gemietet werden und können nur durch die Produkte einer Marke bewirtschaftet werden. Der Platz an diesen Standorten ist begehrt und muss bezahlt werden. Eine echte Skalierbarkeit auf hohe Stückzahlen ist in jeder Hinsicht schwer vorstellbar.
Oder doch im elektrischen Lkw?
So bleibt die Erkenntnis, dass der Battery Swap im Elektroauto letztlich keinen Sinn ergibt. Das muss aber nicht das Aus für das Verfahren bedeuten. Schließlich praktizieren es tausende E-Bikefahrer mit einer Zweitbatterie. Interessant wird der Batterietausch vielleicht für bestimmte geschlossene Industrieanwendungen. Und auch die Frage, wie schwere Langstrecken-Lkw in Zukunft unterwegs sind, ist nicht abschließend beantwortet. Die 40-Tonner-Zugmaschinen sind sich im Aufbau ähnlicher als die Pkw mit ihrer großen Unterschiedlichkeit. Das könnte eine Chance sein.
Erschienen bei heise Autos.