Der Erstwagen

Viel hilft viel. Der Opel Ampera-e beweist mit einer Batteriekapazität von 60 Kilowattstunden (kWh), dass ein großer elektrochemischer Speicher den Alltag leichter macht. Er übertrifft die Konkurrenten im Kompaktsegment deutlich. Zum Vergleich: Der Nissan Leaf hat 40 kWh, der Volkswagen e-Golf 36 kWh und der Hyundai Ioniq 28 kWh. Das Mehr beim Opel hat zum Ergebnis, dass immer mehr Nutzungsprofile abgedeckt werden. So führte die über 1.000 Kilometer lange Testfahrt häufig über Autobahnen, ein Terrain, das für Batterie-elektrische Autos dieser Klasse im Regelfall ermüdend ist. Zu oft muss geladen werden, zu lang ist die Zwangspause. Anders der Ampera-e: Er ist hier zwar nicht mit einem konventionellen Auto vergleichbar – aber er ist trotzdem für viele Anwendungsfälle ein Erstwagen.

Das Laden an sich wird mit 60 kWh schlicht unwichtiger. Es ist nicht lange her, da hatte die Basisversion des Tesla Model S eine Batterie mit gleicher Kapazität. Als der Zwilling des Opel Ampera-e im Januar 2016 als Chevrolet Bolt vorgestellt wurde, war die Aufmerksamkeit darum groß: Könnte dieses Auto den Durchbruch in den Massenmarkt erzielen?

Jein. In den USA verkauft sich der Chevrolet Bolt gut. Rund 30.000 wurden bereits ausgeliefert. Beim Opel Ampera-e dagegen hat es bei der Trennung von General Motors und der Übergabe der Marke an den neuen Eigentümer PSA eine schwierige Übergangsphase gegeben. Was genau passiert ist, bleibt im Nebel. Wichtig für heutige Interessenten ist nur: Der Opel Ampera-e kann jederzeit bestellt werden. Die Lieferfrist beträgt drei bis vier Monate, und der Preis liegt in der von heise Autos gefahrenen Ultimate-Ausstattung bei 48.385 Euro. Hiervon können auf absehbare Zeit 4.000 Euro E-Prämie abgezogen werden, es bleiben also 44.385 Euro. Ab der zweiten Jahreshälfte gibt es den Ampera-e in der Plus-Ausstattung ab 42.990 Euro minus 4.000 Euro gleich 38.990 Euro. Rechnet man die Zulassungszahlen des Kraftfahrtbundesamtes von Januar, Februar und März hoch, ergeben sich fürs komplette Jahr knapp 1.000 Exemplare in Deutschland.

Der Ampera-e ist als Van gestaltet. Die Sitzposition ist hoch und die Fensterflächen sind groß. Die Übersichtlichkeit ist – typisch für diese Karosserieform – eher mäßig; die Rückfahrkamera und die Parkpiepser helfen, um in enge Lücken zu kommen. Ansonsten reist man kommod im Opel. Und wenn es sein muss, beschleunigt der 150 kW starke E-Motor den laut Fahrzeugschein 1.701 kg schweren Wagen in 7,3 Sekunden auf 100 km/h. Es geht mit Nachdruck weiter auf elektronisch limitierte 150 km/h. Der Ampera-e ist auf Wunsch schnell, aber vom Charakter her eigentlich ein Gleiter.

Die meisten E-Komponenten kommen von LG Chem

Wesentliche Komponenten des Opels kommen übrigens von LG Chem. Neben Batteriesystem und -zellen liefert das koreanische Unternehmen den Antriebsstrang inklusive E-Motor, die Leistungselektronik, das Ladegerät, die Klimatisierung der Batterie sowie das komplette Bedien- und Instrumentenpaneel.

Für den Kunden ist das nicht spürbar. Er bewegt den Opel Ampera-e lässig durch den Verkehr. Die Faszination beim Batterie-elektrischen Fahren ist wie bei anderen Elektroautos auch und soll dennoch beschrieben werden: Es geht kraftvoll und geschmeidig von der Ampel weg. In jeder Lebenslage ist die volle Power aus dem Nichts sofort verfügbar. Alles ist leiser als in einem Pkw mit Verbrennungsmotor und vibrationsfrei sowieso. Gelassenheit macht sich breit.

Der Opel bietet zwei Rekuperationsmodi an: In der Normalposition D des Wahlhebels ist die voreingestellte Bremswirkung des E-Motors im Schiebebetrieb moderat. Die Kriechfunktion ist vorhanden, der Wagen rollt also an, sobald man das Bremspedal loslässt. Anders ist es in Position L: Der Ampera-e fährt jetzt im One-Pedal-Drive ähnlich wie ein BMW i3. Die Rekuperation ist so stark, dass im Stadtverkehr selten oder nie aktiv gebremst werden muss. Außerdem kriecht der Opel nicht mehr. Er verzögert bis zum Stillstand. Als weitere Option kann der Fahrer den Hebel links am Lenkrad ziehen – das erinnert an die Retarderbremse bei einem Lkw, denn so lange der Hebel gehalten wird, rekuperiert das Elektroauto vehement.

300 Kilometer Autobahnreichweite bei gemäßigtem Fahrstil

Die Außentemperaturen im Testzeitraum lagen zwischen 15 und 22 Grad. Zum Wohlfühlen. Es musste also weder viel geheizt noch extrem gekühlt werden. Die Klimaautomatik war meistens auf 22 Grad eingestellt, und es wurde grundsätzlich nicht an elektrischen Verbrauchern gegeizt. Zur Reichweite: Bei meistens gemäßigter, nur kurzfristig dynamischer Fahrweise sowie hohem Autobahnanteil lag der Durchschnittsverbrauch bei 20,1 kWh / 100 km, woraus ungefähr 300 Kilometer resultieren.

Ein Wert, der erklärt werden muss. Opel gibt nach WLTP „geschätzte“ 380 km an und einen Verbrauch von 14,5 kWh / 100 km. Diese Zahl entspricht zufällig genau dem Minimalkonsum im Test, der bei einer Überlandfahrt durch die holsteinische Schweiz erzielt wurde. Der Höchstwert von 24,8 kWh / 100 wurde bei per GPS gemessenen 130 km/h (Tacho: 136 km/h), Wind und Regen erhoben. Die Stichprobe in der dichten Rush-hour Hamburgs ergab 16,5 kWh / 100 km. Anmerkung: Der Testwagen war noch mit Winterreifen ausgerüstet.

Insgesamt war die zweiwöchige Testfahrt sehr Autobahn-lastig, und das lief erstaunlich gut: Der Mischbetrieb aus Tempomat auf 130 km/h (echte 123 km/h), der An- und Abfahrt zur Autobahn sowie diversen verlangsamenden Baustellen ergab ziemlich genau die genannten 300 Kilometer Reichweite sowie den Durchschnittswert von etwa 20 kWh / 100 km.

Der Opel Ampera-e hat in der Praxis einfach eine überzeugende Vorstellung abgegeben. Wer über die 300 Kilometer hinausfahren will, muss halt einen entsprechenden Zwischenstopp einplanen. Auch das lief problemlos, weil an sehr vielen Standorten entlang der Autobahnen Schnell-Ladestationen stehen. Eine Stippvisite in den Niederlanden zeigte, dass die Infrastruktur unserer Nachbarn flächendeckend ist und noch besser funktioniert als in Deutschland; so erlaubt zum Beispiel die App des Anbieters Fastned das (scheinbar) automatische Laden. Wenn das Smartphone in der Nähe der Säule ist, koppelt es übers Wifi, und die Identifikation und Freischaltung erfolgen von selbst. Niederschwellig und simpel. Die Rechnung kommt über die jeweilige Kreditbank des Nutzers.

Mehrphasiges Laden und Wärmepumpe sind überbewertet

Das Laden mit Gleichstrom (DC) an entsprechenden Säulen klappt mit bis zu 50 kW. Wechselstrom (AC) lädt der Ampera-e einphasig mit 7,4 kW an öffentlichen Säulen und 4,6 kW an privaten Wallboxes, wo der Strom wegen Schieflast gedrosselt wird. Die im Vergleich zu Renault Zoe oder BMW i3 geringe AC-Ladeleistung ist in etlichen Foren kritisiert wurden. Wir meinen: Zu Unrecht. Denn hier greift wieder das „viel hilft viel“-Prinzip: Es ist mit 60 kWh Batteriekapazität weniger wichtig, wenn die Ladegeschwindigkeit nicht so hoch wie vorstellbar ist. So lange ausreichend elektrische Energie gespeichert ist, macht man sich keine Sorgen, und genauso ist es im Opel.

Diese Aussage ist für die nicht vorhandene Wärmepumpe ebenfalls gültig. Selbstverständlich würde eine Wärmepumpe Strom sparen und den Antriebsstrang effizienter machen. Bei der Reichweite aber wird dieser Faktor überschätzt. Der Grund: Jedes Auto wird zu Beginn der Fahrt einmal energieintensiv aufgeheizt – danach muss die Innentemperatur lediglich gehalten werden. Entweder die Strecke ist kurz, dann spielt die geschwundene Reichweite keine Rolle. Oder sie ist lang. Dann ist der prozentuale Nachteil vernachlässigbar. Vorbild: Tesla.

60 kWh – die neue Mitte

Eine fette Batterie ist eben die Antwort auf viele Fragen. Und so ist es keine gewagte Prognose, dass in der Kompaktklasse spätestens 2020 50 kWh die Untergrenze des Akzeptablen darstellen werden. Der Nissan Leaf etwa wird in Jahresfrist mit einem 60 plus x kWh großen Akku vorgestellt. Der nach Länge, Breite und Höhe mit dem Opel fast identische Hyundai Kona EV kommt ab September mit 64 kWh. Und so weiter. Die Zeit der 24 kWh-Batterien ist vorbei.

Die Qualität eines Batterie-elektrischen Autos bemisst sich allerdings nicht allein an der kWh-Zahl. Und abseits des viel-hilft-viel-Arguments macht der Opel Ampera-e den Eindruck eines jederzeit guten, aber nicht exzellenten oder gar herausragenden Fahrzeugs. An einigen Stellen ist die letzte Meile nicht gegangen worden.

Die Aerodynamik etwa ist mit cW 0,32 nicht ausgefeilt. Der Innenraum ist solide und sauber verarbeitet, die Materialauswahl und Anmutung wirken jedoch gemessen am hohen Preis dürftig. Die Sitze sind relativ schmal und kurz. Es ist keine adaptive Geschwindigkeitsregelung erhältlich. Die Bluetoothkoppelung arbeitete nicht korrekt, die Belüftung ist zu laut, und der Totwinkelwarner links gab Falschwarnungen.

Aspekte, die jeder Käufer für sich bewerten und gewichten muss. Alles in allem zeigt der Opel Ampera-e an, dass er mit 60 kWh Batteriekapazität die neue Mitte ist. An ihm und der Dank der Reichweite hohen Praxistauglichkeit müssen sich alle kommenden Konkurrenten messen. Mehr elektrische Energie bedeutet weniger Ladestress, und 300 Kilometer bei lockerer Autobahntour sind eine deutliche Ansage. Dort, wo der Opel ist, müssen die anderen erst hinkommen.

Erschienen am 1. Mai bei heise Autos.

Bildquelle: Christoph M. Schwarzer

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