Mehr als normal

Darfs ein bisschen mehr sein? Ja, sagen zurzeit 55 Prozent der Käufer eines Nissan Leaf und wählen den e+ mit 62 statt 40 Kilowattstunden  (kWh) Batteriekapazität. In der höchsten Ausstattungslinie Tekna kostet der Leaf e+ 46.500 Euro, also 6.200 Euro mehr als der 40er. Dafür gibt es unter anderem eine von 270 auf 385 Kilometer (km) gestiegene Normreichweite. Was den Nissan Leaf sympathisch macht, ist seine Normalität: Er ist einfach eine solide Sache.

Der Nissan Leaf ist ein in sich harmonisches Auto. Die Karosserieform ist unaufgeregter als beim Vorgänger, die Bedienung ist simpel, die Verarbeitungsqualität ist hochwertig. Der Leaf ist souverän, aber ohne den „Hoppla, jetzt komm ich“-Effekt eines Tesla Model 3. Reinsetzen, den Handschmeichler in der Mittelkonsole auf D ziehen, losfahren. Gerne auch ohne künstliches Fahrgeräusch: Es lässt sich, so ist die gesetzliche Vorgabe, noch bis zum Erstzulassungsdatum 1. Juli 2021 per Knopfdruck deaktivieren. Danach ist es vorbei mit dem wunderbar leisen Gleiten bei niedrigen Geschwindigkeiten.

Die Leistung des Elektromotors beträgt beim Leaf e+ 160 kW. Das sind 50 kW mehr als im 40er Leaf. Was sich viel anhört, ist kaum relevant: Beim Spurt auf 100 km/h vergehen 6,9 Sekunden – eine weniger als mit der Basisbatterie. Und die Höchstgeschwindigkeit steigt von 144 auf 157 km/h. Auch hier ist der Unterschied akademisch. Was der Nissan Leaf e+ etwas besser macht als die Konkurrenz in Gestalt des Hyundai Kona EV oder des Kia e-Niro, ist die Umsetzung des Vortriebs: Zwar stößt auch der Leaf früh an die Grenzen des Frontantriebs – besonders bei Nässe – , die Traktionsschwäche ist jedoch weniger ausgeprägt als im Hyundai-Kia-Konzern.

Durchschnittliche Reichweite: 360 Kilometer

Das Kernziel der größeren Batterie ist die Reichweite. Der Durchschnittsverbrauch lag mit 17,2 kWh / 100 km (Onboardwert ohne Ladeverluste) ungefähr auf dem Niveau des vor gut einem Jahr getesteten Leaf 40 (16,8 kWh / 100 km). Rechnerisch ergeben sich aus diesem Mischwert 360 Kilometer Aktionsdistanz. Wie die Praxis funktioniert, hängt vom Einsatzprofil ab.

Abseits der Autobahn ist der Stromkonsum niedriger. In der Stadt waren bei günstigem Wetter (gut 20 Grad Außentemperatur, trockene Fahrbahn) 12,1 kWh / 100 km ablesbar, woraus theoretisch 512 km Reichweite resultieren. Ein Berufspendler mit 50 km Strecke zum Betrieb müsste also in der Arbeitswoche nicht laden. Bei einer Überlandtour lag der Stromverbrauch bei 13,7 kWh / 100 km (=453 km). Genug für die meisten Zwecke.

Wie immer bei Batterie-elektrischen Autos ist es die Autobahn, die zum Stirnrunzeln führt. Auf freier Strecke mit dem Tempomat auf 132 km/h (130 km/h nach GPS-Messung) ergab eine Stichprobe 22,8 kWh Verbrauch. Das entspricht 272 km. Während des zweiwöchigen Testzeitraums wurde meistens mehr im Sinn einer höheren Reichweite daraus: Der dichte Verkehr während der Sommerferien hat den Leaf e+ trotz versuchter Richtgeschwindigkeit häufig eingebremst. Das Ergebnis war zum Beispiel auf einer 200 Kilometer langen Tour ein auf 18,9 kWh / 100 km (=328 km Reichweite) gesunkener Verbrauch.

Zugegeben, die Bedingungen waren optimal. Dennoch wurde der Nissan Leaf e+ nicht geschont. Die Klimaautomatik war durchgehend eingeschaltet, und es ist immer wieder schön zu sehen, wie wenig Energie für Heizung oder Kühlung draufgeht: Im Zentraldisplay zeigt der Leaf an, wie viel Watt notwendig sind. Nach wenigen hundert Metern sackt die Anzeige auf nahe Null ab. Ja, das ist bei großer Hitze oder Kälte anders, aber nicht grundsätzlich. Ob warm oder kalt: Niemand sollte zu Gunsten einer minimal größeren Reichweite am Komfort sparen, weil das zu Lasten der Konzentration und damit der Sicherheit geht.

Wie wichtig ist #Rapidgate?

Viel diskutiert wird beim Nissan Leaf die Reduktion der Ladeleistung und damit der Ladegeschwindigkeit bei steigender Batterietemperatur. Das als Rapidgate bekannt gewordene Phänomen wurde kritisiert, weil Nissan das im Vorfeld nicht so deutlich gemacht hat, wie es sich die Kunden gewünscht hätten. Die Kommunikationsstrategie hat sich ins Gegenteil geändert: Für den Leaf gibt der japanische Hersteller inzwischen eine Zeit von 90 Minuten an, um von einem Ladestand (abgekürzt SOC für State of Charge) von 20 auf 80 Prozent zu kommen. Also nur gut 24 kW durchschnittliche Ladeleistung? Hier stapelt Nissan tief.

Bei der ersten Schnell-Ladung mit Gleichstrom (abgekürzt DC für direct current) nach dem Chademo-Standard stand die Anzeige zu Beginn über 40 kW. In der Spitze waren es 45 kW und bei einem SOC von 80 Prozent noch 36 kW. Während einige Nutzer bei sehr hohen Außentemperaturen und harter Gangart bereits beim zweiten DC-Stopp von nur noch 20 kW berichten, waren es beim Testwagen am Anfang noch 43 kW. Die Ladekurve fiel beim zweiten Halt im Vergleich zum ersten jedoch früher und steiler ab: Bei SOC 50 Prozent lag die Ladeleistung bei 31 und bei SOC 80 bei nur noch 19 kW.

Das müssen die Käufer des Nissan Leaf einfach wissen. Der Vorteil dieser Auslegung: Die Batterie wird per Software vor thermischen Stress bewahrt. Die Dauerhaltbarkeit profitiert davon. Zwar wäre es schöner, wenn die Hardware – sprich: ein aktive Flüssigkeitskühlung – für Wohlfühltemperaturen im Akku sorgen würde. Selbst das in dieser Hinsicht beste Batterie-elektrische Auto, der Audi e-tron, wird damit letztlich nicht zum echten Langstreckenläufer. Dort sind Brennstoffzellen-elektrische Fahrzeuge und jene mit Verbrennungsmotor überlegen.

No sports.

Interessenten müssen fürs eigene Nutzungsprofil also prüfen, wie wichtig ihnen Rapidgate ist und ob ein Batterie-elektrisches Auto überhaupt die beste Wahl für sie ist. Klar ist: Mit dem Nissan Leaf e+ ist es seltener notwendig zu laden. Allerdings gibt es im Vergleich zum Leaf 40 neben dem beachtlichen Mehrpreis eine weitere Schwäche: Das Gewicht.

Es wächst von 1.600 auf 1.713 kg nach EU-Norm, also inklusive 75 kg für Normfahrer und Gepäck. Ein scheinbar kleiner Unterschied, der in Kurven deutlich wird. Der e+ kommt früher ins Rollen um die Längsachse und wird unpräzise. Er fährt sich wie der kleine Leaf, nur eben abgestimmt auf dauerhafte Mindestbeladung. Das ist keineswegs unangenehm. Trotzdem entlarvt es die vermeintlich erstklassige und dynamische Straßenlage als unerklärlichen Mythos der Elektromobilität. Was stimmt ist, dass der Schwerpunkt niedrig ist. Mit der flinken Leichtigkeit einer Renault Alpine aus der gleichen Konzernallianz aber hat das schlicht nichts zu tun. Im Regelfall setzen die Reifen die Grenze. So lange man nicht allzu schnell unterwegs ist, bleibt der Nissan Leaf ein äußerst komfortabler Cruiser, und Wettbewerber wie der noch schwerere Kia e-Niro fahren sich in zügigen Kurven nochmals schwerfälliger und schaukeliger. Auch hier gilt wie bei Rapidgate: Muss man wissen. No sports.

Zum Nissan Leaf gehört der japanische DC-Ladestandard Chademo. Bei den Neufahrzeugen ist das nahezu ein Alleinstellungsmerkmal: Neben dem Leaf laufen noch der Nissan e-NV200 und der Mitsubishi Outlander PHEV mit dieser Technik vom Band. Und vielleicht werden hier und da noch Restbestände des Drillings Mitsubishi EV, Citroen C-Zero und Peugeot iOn mit Chademo neu zugelassen. Inzwischen sind diese DC-Säulen also fast eine proprietäre Infrastruktur.

Das ist gar nicht übel. Fast alle DC-Schnelllader sind als Triple-Charger ausgelegt; sie bedienen den am weitesten verbreiteten CCS (für Combined Charging System), den japanischen Chademo und bei Bedarf auch den Wechselstromstecker Typ 2 (Leaf: 7,4 kW einphasig). Mittelfristig dürfte die Abdeckung in Europa gesichert sein. Und dass sich CCS durchsetzt, ist nicht in Stein gemeißelt. China und Japan entwickeln einen gemeinsamen Standard mit dem Namen ChaoJi, der bis zu 900 kW Ladeleistung ermöglichen soll – und der dürfte zumindest auf diesen beiden Märkten dominant werden.

Ärgernis Ladeinfrastruktur

Wie so oft bei Batterie-elektrischen Autos gab es bei der Nutzung der öffentlichen Ladeinfrastruktur Hindernisse, die ärgerlich und bisweilen nervtötend sein konnten. Ans Ziel kommt man immer – manchmal mit Mühsal. So erwies sich einerseits der von Nissan an den Autoschlüssel angebrachte Identifikationschip von Plugsurfing als hervorragendes Identifikationsinstrument. Läuft. Andererseits gab es typische wiederkehrende Abstriche: So war an einem Morgen bereits online feststellbar, dass die räumlich nächste DC-Säule defekt war. Die nächstweitere in knapp 30 km Entfernung schaltete scheinbar frei – nur floss leider kein Strom. Ein Versuch der telefonischen Nachfrage beim Betreiber Allego ergab lediglich eine Ansage, dass die Hotline derzeit nicht erreichbar wäre. Also Weitersuchen, bis es woanders klappt.

Das ist leider keine Ausnahme. Teslas Supercharger zeigen, wie es sein muss: Alle DC-Säulen werden im Navigationssystem angezeigt und in die Routenführung einbezogen. Identifikation, Kostenanzeige und Abrechnung erfolgen automatisch. Fertig. Dass es auch bei der Nicht-Tesla-Infrastruktur so gut funktioniert, wird noch lange dauern. Zwar ist der Standard Plug & Charge als Bedienvereinfachung über die ISO 15118 definiert. Bis zur flächendeckenden Umsetzung dürften noch mindestens fünf Jahre vergehen.

Zur Konkurrenz des Nissan Leaf e+: In diesem Preissegment tummeln sich einige attraktive Elektroautos. Besonders nachgefragt ist der Kia e-Niro. Der Koreaner ist bei der Fahrautomatisierung besser als der Leaf, beim Raumangebot jedoch knapper und vor allem kaum lieferbar. Nach Aussage von Nissan Deutschland ist ein Leaf 40 in nur vier Wochen vor Ort, und beim e+ dauert es bis Dezember. In der gleichen Preisregion ist auch das Tesla Model 3 Standard Range Plus zu haben. Neben den objektiven Kriterien ist anzunehmen, dass sich die Kundschaft von Tesla und Nissan nicht gleicht. Hier das emotional aufgeladene Hypeprodukt, dort der bescheidene und konservative Nissan. Eine Geschmacksfrage. Und der Volkswagen ID.3? Der wird noch ein Jahr auf sich warten lassen, bis tatsächlich signifikante Stückzahlen ausgeliefert werden.

Der Nissan Leaf e+ ist die beste Wahl für Kunden, die die Kombination aus der großen Erfahrung des Herstellers, der bekannten Solidität, der vibrationsfreien Laufkultur und dem guten Raumangebot suchen. Er ist zu Recht ein Welttopseller. Der Leaf ist das Gegenteil eines übertriebenen Werbeversprechens, er ist bodenständig und alltagstauglich. Mit der 62 kWh-Batterie hat er eine Reichweite, von der die Leaf-Käufer der ersten Generation nur träumen konnten – was zu einem klassenüblich zu hohen Preis führt. Wer auf die größere Reichweite verzichten kann, sollte sich den Leaf 40 anschauen. Der kann ebenfalls empfehlenswert sein.

Erschienen bei heise Autos.

Bildquelle: Christoph M. Schwarzer

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