Abschalten? Ja, bitte!

Das automatisierte Fahren erreicht 2023 eine neue Qualität: Mit dem Neujahrstag ist Level 3 erlaubt. Das geht aus einer Mitteilung des zuständigen Gremiums bei der UNECE (United Nations Economic Commission for Europe) hervor. Konkret heißt das: Während der Mensch am Steuer derzeit – also bei bis zu Level 2 – immer verantwortlich ist und die Assistenzsysteme überwachen muss, darf er die Fahrarbeit mit Level 3 vorübergehend komplett abgeben und Nebentätigkeiten erledigen. Mails checken, Zeitung lesen, Brot essen. Diese Stufe nennt sich im Fachjargon hochautomatisiertes Fahren, und Deutschland ist das erste Land, in dem das gemacht werden darf.

Der ehemalige Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer hatte das Gesetzgebungsvorhaben maßgeblich vorangetrieben. Eine Regelung, die das Level 3-Fahren bis 60 km/h ermöglicht, ist seit 18. Juli 2021 in Kraft. Der neue UNECE-Rahmen ab 2023 steigert diese Geschwindigkeit auf 130 km/h.

Die Funktion eines Level 3-Systems ist allerdings an bestimmte Auflagen gebunden, die sich in einem Wort zusammenfassen lassen: Autobahn. Oder, wie es in der UNECE-Sprache sinngemäß heißt, Straßen ohne Fußgänger und Radfahrer, deren Richtungsfahrbahnen baulich getrennt sind.

Level 3 zuerst bei Mercedes

Mercedes hat seit 17. Mai zwei Fahrzeuge im Angebot, die die bisherige Level 3-Fassung bis 60 km/h erfüllen: Die S-Klasse und den EQS. Auf der Autobahn kann sich der Fahrer nach Aktivierung des Drivepilots (EQS: nur mit Fahrassistenzpaket Plus) entspannt zurücklehnen. Das Kraftfahrtbundesamt (KBA) hat dieses System zertifiziert. Es muss für die Ausweitung des Geschwindigkeitsbereichs auf 130 km/h erneut homologiert werden, hat aber jetzt schon die meisten technischen Voraussetzungen dafür.

Zuvor aber nochmals zur eigentlichen Funktion: Auf Knopfdruck kann der Fahrer in zukünftig legal mit dem Smartphone spielen. Er darf aber nicht auf dem Rücksitz schlafen, weil die Rückübernahme (!) durch ihn einer Karenzfrist möglich sein muss. Die UNECE hat hierfür zehn Sekunden definiert, in denen der Mensch wieder die Kontrolle übernehmen muss.

Mercedes setzt schon vorher eine Warnkaskade in Gang: Erst optisch und akustisch, und nach vier Sekunden gibt es eine haptische Meldung über ein Rütteln am Gurt. Reagiert der Fahrer nicht, wird der risikominimale Zustand hergestellt: Das Auto hält langsam an, die Warnblinkanlage wird eingeschaltet und das Notrufsystem e-Call aktiviert. Noch passiert das in der eigenen Fahrspur, die UNECE-Überarbeitung erlaubt ab 2023 aber auch den Fahrstreifenwechsel.

Lidar, Positionsbestimmung und Redundanzebene nötig

Selbst ein Toyota Aygo X in Grundausstattung hat inzwischen einen Radar und eine Kamera serienmäßig, und sehr viele Pkw haben außerdem Ultraschallsensoren. Um aber das Fahren nach Level 3 sicher zu gewährleisten, ist deutlich mehr Sensor- und Rechenleistung als bisher notwendig.

Für Level 3 kommt bei Mercedes S-Klasse und EQS ein Lidar dazu. Statt elektromagnetischer Wellen wie beim Radar werden Laserstrahlen eingesetzt, um die Umgebung zu scannen. Außerdem ist ein hochgenaues Positionierungssystem mit entsprechendem Kartenmaterial erforderlich, das im einstelligen Zentimeterbereich feststellen kann, wo das Fahrzeug exakt ist. Ein Beispiel dafür ist, dass hochautomatisiertes Fahren nur in Deutschland zugelassen ist; an der Staatsgrenze ist also Schluss, und das wird per Software erkannt.

Für die Positionierung sind drei Satelliten notwendig. Eine Grenze des Systems sind zum Beispiel Tunnel. Der Fahrer wird frühzeitig darüber informiert, dass er das Steuer übernehmen muss. Bei schlechtem Wetter wie Nieselregen oder Gischt könnte ebenfalls eine Überforderung des Systems auftreten, dessen Sensoren in jedem Fall redundant ausgelegt sind; es muss also immer eine Rückfallebene vorhanden sein. In den Radkästen der Mercedes-Modelle sind Feuchtigkeitssensoren untergebracht, die Nässe erkennen können. Wie bisher wird der Hersteller mit einer vorsichtigen Auslegung starten und die Funktionen sukzessive ausweiten. Mercedes S-Klasse und EQS haben auch eine Heckkamera, die Blaulicht erkennt. Die Autos bilden schon in der aktuellen Version eine Rettungsgasse.

Was noch? Die UNECE-Neuregelung sieht vor, dass alle Vorgaben der UN-Cybersecurity erfüllt sein müssen und dass eine Blackbox eingebaut ist.

Vorreiter Deutschland

Fazit: Die Anhebung der Grenzgeschwindigkeit beim hochautomatisierten Fahren von 60 auf 130 km/h bedeutet eine neue Qualität für Komfort und Sicherheit. Autobahn? Abschalten! Wie immer kann der Mensch das System jederzeit überstimmen. Der technische Aufwand ist nach heutigen Maßstäben erheblich, aber vor zehn Jahren war es auch kaum vorstellbar, dass ein japanischer Kleinstwagen in Grundausstattung über einen radarbasierten Tempomaten mit Abstandsregelung verfügt. Wie gehabt wird die Verbreitung von Level 3 in der Luxusklasse beginnen und sich in die unteren Segmente fortsetzen.

Dass Deutschland Vorreiter in der Übernahme der UNECE-Regel in nationales Recht ist, ist eine Chance für die Premiummarken wie Mercedes, BMW, Audi und Porsche. Die Konkurrenz muss nun zeigen, was sie kann. Allen voran Tesla, wo der Autopilot mit Full Self Driving (FSD) seinem kostspieligen Namen gerechter werden könnte, falls die Zertifizierung nach Level 3 gelingt.

Erschienen bei heise Autos.

Bildquelle: Mercedes

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