Statt Auto!?

Ein Pedelec fährt nicht, es zoomt: Vier oder fünf kräftige Tritte in die Pedale, und das Riese & Müller Packster 40 ist bei 25 km/h angekommen. Jetzt stellt der Elektromotor seine bis zu 250 Watt starke Unterstützung ein, weil es das Gesetz so vorschreibt. Im Packster 40 vereinen sich der Trend zum Lastenrad und der zum Pedelec – 2017 wurden in Deutschland 720.000 elektrifizierte Fahrräder verkauft. Das entspricht 19 Prozent des Gesamtabsatzes. Innerhalb dieser Gruppe kommen die Lastenräder auf drei Prozent. Unterschiedliche Aufbaukonzepte konkurrieren um die häufig urbane und mutmaßlich kaufkräftige Zielgruppe; der Grundpreis des Packsters von 3.999 Euro liegt im üblichen Rahmen.

Das Riese & Müller Packster 40 zieht erstaunlich viel positive Aufmerksamkeit auf sich. Das ist in einer Stadt wie Hamburg ungewöhnlich. Schließlich gibt es hier die Sonderkommission #Autoposer. Die Polizei zieht reihenweise Fahrzeuge aus dem Verkehr, weil deren Halter davon überzeugt sind, sich nur durch besonders viel illegalen Auspufflärm von der Masse der Porsches und BMWs abheben zu können. Das Packster 40 dagegen ist leise und fällt trotzdem auf. Die Leute gucken. Daumen hoch. Ein Lächeln. Manche lesen den groß gedruckten Schriftzug der hessischen Firma vor. Andere fragen direkt: Wie fährt sich das Teil?

Gerne in Schräglage

Es fährt sich gut. Alle Lastenräder von Riese & Müller sind als Einspurfahrzeuge ausgelegt. Ein Rad vorne, ein Rad hinten. Das ist erwähnenswert, weil die Wettbewerber mit manchmal aufwändigen und teilweise fragwürdigen Konstruktionen am Markt sind. Beim Riese & Müller sorgt der scheinbar simple Aufbau mit 26 Zoll-Felge hinten und einer 20er vorne für einen weitgehend problemlosen Alltag. Das Packster 40 ist wegen des relativ kurzen Radstands sehr wendig. Einfach in die Kurve reinfallen lassen, Schräglage ausdrücklich erwünscht.

Ein kleiner Abstrich und ein Tribut an die Agilität ist das nervöse Vorderrad. Bei sehr niedrigen Geschwindigkeiten oder losem Untergrund ist eine feste Hand gefragt, und auch sonst wünscht sich der Autor dieses Beitrags einen Lenkungsdämpfer. Den hat nach Auskunft der Pressestelle das 200 Euro teurere Packster 80 serienmäßig.

Dieses Modell könnte auch deswegen interessant sein, weil – daher die Nomenklatur – die Länge der Ladefläche von 40 auf 80 Zentimeter anwächst. Zwischen dem 40er und dem 80er gibt es noch das Packster 60 und natürlich das Spitzenmodell Load. Das Load ist in der vergleichbaren Touringversion 1.000 Euro teurer als das Packster 40, hat eine gefederte Schwinge hinten und wie das 80er Platz für zwei Kinder, die in statt gegen die Fahrtrichtung blicken.

Exakte Bedarfsanalyse

Für alle Ausführungen gibt es Argumente. Angesichts der Produktpalette allein bei Riese & Müller sowie der vielfältigen Konkurrenz von Babboe bis Urban Arrow sollten alle Interessenten überprüfen: Was ist eigentlich der Transportbedarf, den ich erfüllen will? Ist das Packster 40 als Kindergartenshuttle am besten geeignet, weil das ältere Kind schon auf dem eigenen Rad unterwegs ist? Will ich ein Lastenrad dafür verwenden, Werkzeuge zu transportieren, Post oder Einkäufe?

Das Packster 40 jedenfalls ist für den tendenziell geringen Bedarf ausgelegt. Es ist zum Beispiel angenehm, einen Rucksack nicht auf dem Rücken zu tragen, sondern in die seitliche aufklappbare Holzbox zu legen. Und natürlich hat das e-Lastenrad alle Fähigkeiten eines normalen Fahrrads. Packtaschen können genauso montiert werden wie ein Anhänger.

Zweistellige Zuwachsraten im Premiummarkt

Blicken wir nochmal auf das Produkt an sich. In der Ausstattungslinie Touring kostet das Packster 40 ab 4.399 Euro. Dazu addieren sich beim Testrad der zweite Akku (nicht zwingend notwendig) für 899,90 Euro, das Carrysystem für 199,90 Euro (der Kindersitz kostet weitere 149,90 Euro), die Persenning mit Handschuhfach für 179,80 Euro (ohne Abdeckung betrachten Passanten die Box als Mülleimer) und das ABUS Bordo Plus-Schloss für 119,90 Euro (wie das Felgenschloss leider hakelig). Macht insgesamt 5.748,50 Euro.

Riese & Müller baut traditionell hochwertige Fahrräder und richtet sich an eine solvente Kundschaft. Die Zuwachsraten des Herstellers, der mit Ausnahme des Faltradklassikers Birdy ausschließlich Pedelecs anbietet, liegen bei rund 60 Prozent im Jahr. Im Geschäftsjahr 2017/18 sollen rund 50.000 Bikes verkauft werden. Offensichtlich entspricht der Preis dem Wert, den die Kunden darin sehen.

Der Spaßfaktor beim Packster 40 ergibt sich aus der Kombination von Pedelec und der geringen Gesamtlänge von 2,23 Meter. Über den Bosch-Mittelmotor ist alles gesagt und geschrieben worden; er verrichtet zuverlässig, unspektakulär und leistungsfreudig seinen Dienst. Der hohe Sympathiewert für das Packster 40 erschließt sich, wenn man andere Menschen aufsteigen lässt und zuguckt: Es sieht viel schneller aus, als es sich beim Fahren anfühlt. Durch seine Größe fordert es ein Stück weit Respekt ein und beeindruckt. Und die rote Farbe sieht schick aus. Es ist ein toller Einstieg in dieses Segment. Wer sich für Lastenräder begeistert, wird allerdings bald mehr Transportkapazität wollen.

Ein Lastenrad-Pedelec ist auch Ausdruck eines Zeitgeists, in dem Produkte immer differenzierter auf individuelle Bedürfnisse zugeschnitten werden. Ein Standardfahrrad (Durchschnittspreis laut Zweirad-Industrieverband: 698 Euro) kann viel. Ein Lastenrad-Pedelec kann noch mehr. Ein vollständiger Ersatz fürs Auto ist es trotzdem nicht. Es ist eine Ergänzung für die bunte Welt des Transports und ein Zeichen einer immer feiner segmentierten Gesellschaft. Probefahrt? Unbedingt.

Erschienen am 22. Juni bei heise Autos.

Bildquelle: Christoph M. Schwarzer

Ein Gedanke zu „Statt Auto!?

  1. Ein Lenkungsdämpfer für „nervöse Vorderräder“ wäre auch bei anderen Modellen von Riese+Müller willkommen, allein um bei Parken mit dem Fahrradständer das heftige Umschlagen des Vorderrades zu dämpfen.

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