Der Überlegene

Ruhe, bitte! Die Dämmung der Geräusche von Wind und Fahrwerk im Audi e-tron 55 quattro ist hochwirksam. In Kombination mit dem vibrationsfreien Lauf der beiden Elektromotoren wird der Verkehrsalltag ausnehmend gelassen, kraftvoll und leise. Wie man hochwertige Autos baut, wissen die Audianer. In zwei Aspekten ist es ihnen außerdem gelungen, Überlegenheit zu dokumentieren: Bei der Ladegeschwindigkeit und der Fahrautomatisierung.

Rückblende: Als Audi 2013 mehrere Prototypen des R8 e-tron zur Ausfahrt auf dem Tempelhofer Flugfeld in Berlin bereitstellte, war der Ruf längst ruiniert. Vorsprung durch Technik? Das waren der Ur-Quattro, der Audi 100 TDI und der A2. Und vielleicht hätte der R8 e-tron eine Neuinterpretation des alten Anspruchs werden können, wenn der damalige Entwicklungsvorstand Wolfgang Dürheimer nicht sämtlichen Elektro-Ehrgeiz gestoppt hätte.

Jetzt also gibt es ein Serienprodukt. Endlich. Quattro modern ab 80.900 Euro. Der e-tron wird sofort als Audi erkannt. Er verbirgt die Außendimensionen von 4,90 Länge und 1,94 Breite gekonnt. Die Proportionen stimmen, das Design ist harmonisch. Nur im direkten Vergleich mit daneben parkenden Autos fällt auf, wie groß der e-tron ist.

Trotzdem lässt sich der Audi e-tron spielerisch und leicht fahren, weil die Lenkung äußerst präzise ist. Die Mischung aus butterweichem Grundgefühl und Zielgenauigkeit ist ganz weit vorne. Und auch sonst fährt sich der e-tron entspannt. Beim ersten Losfahren muss man sich daran gewöhnen, dass es wie im BMW i3 keine Kriechfunktion gibt; das Auto bewegt sich also nicht, wenn der Fahrer das Bremspedal loslässt, sondern erst, wenn das Strompedal betätigt wird. Dann geht es druckvoll nach vorne – aber nicht überfallartig. Im Boost-Modus vergehen 5,7 Sekunden bis 100 km/h. Vorsicht: Wegen des niedrigen Geräuschpegels ist man jederzeit in der Gefahr, die eigene Geschwindigkeit zu unterschätzen. Dazu kommt, dass der Tachometer sehr genau geht und bei per GPS gemessenen 130 nur 132 km/h anzeigt. Ein Blick auf die digitalen Instrumente oder das vorbildlich ablesbare Head-up Display hilft bei der Selbstregulierung.

Fahrassistenzsysteme, die unmerklich helfen

Oder man lässt den e-tron einfach machen: Der Audi übernimmt die Geschwindigkeit aus der kamerabasierten Verkehrszeichenerkennung und greift zusätzlich auf die Daten aus der Kartennavigation zu. Das funktioniert verlässlich, reproduzierbar und fließend-natürlich statt abgehackt-maschinengesteuert: Der e-tron bremst vor einem Ortsschild rechtzeitig ab, er geht vom „Gas“, wenn hinter der langen Bundesstraßenkurve eine Reduzierung auf 70 km/h kommt, und er hält sich strikt an 30-Zonen. Auch ein „bei Nässe“-Schild erkennt die Kamera, gleicht die Daten mit dem Regensensor ab und reagiert entsprechend. So soll es sein – unauffällig und ohne den Drang zu wecken, das Assistenzsystem überstimmen zu müssen.

Ein weiteres repräsentatives und positives Beispiel der Fahrassistenten ist die automatische prediktive Rekuperation. Die Bremswirkung der Elektromotoren lässt sich per Hand an Lenkradwippen einstellen. Noch besser ist es auch hier, wenn man die Wahl der Rekuperationsstärke dem Auto überlässt. Ist die Straße frei, rollt der Audi mit Null dahin – das ist, als wäre bei einem Auto mit Verbrennungsmotor der Leerlauf eingelegt. Und wenn zum Beispiel auf der Autobahn ein Fahrzeug einschert, entschleunigt der e-tron deutlich stärker über den Elektromotor.

Wer das nicht weiß oder sich nicht für Autos interessiert, wird das kaum oder nicht bemerken, was das Beste ist, was über Fahrassistenzsysteme gesagt werden kann. Der Adaptive Tempomat, die Geschwindigkeitsübernahme, die sanfte Spurführung oder das kapazitive Lenkrad, welches nur angefasst und nicht bewegt werden muss, um zu erkennen, dass der Fahrer „im Loop“ (=aufmerksam) ist; all das ist eine echte Empfehlung. Komfort pur bei gesteigerter Sicherheit.

Hohe und kaum nachlassende DC-Ladeleistung

Zur Reichweite: Die Bruttokapazität der Batterie liegt bei 95 Kilowattstunden (kWh). Tatsächlich verfügbar sind davon 83,6 kWh, woraus bei einem Durchschnittsverbrauch von 25,4 kWh auf 100 Kilometer (km) eine Aktionsdistanz von 329 km resultiert. Bei Richtgeschwindigkeit hat der Bordcomputer 27,8 kWh angezeigt; daraus ergeben sich 301 km. Der Maximalwert von 34,3 kWh war das Ergebnis eines auf 180 km/h eingestellten Geschwindigkeitsreglers – und der Wert wäre fraglos höher gewesen, wenn nicht dichter Urlaubsverkehr den e-tron behindert hätte. Der Minimalverbrauch betrug 17,4 kWh auf einer Überlandstrecke, womit rechnerisch 480 km drin wären.

Mindestens so wichtig wie die Reichweite ist die Fähigkeit zum Schnell-Laden mit Gleichstrom (abgekürzt DC für direct current). Der Audi e-tron 55 quattro erreicht hier knapp 150 kW Leistung. Vor einer Autobahntour ist es sinnvoll, in einem Portal wie Going Electric zu prüfen, wo an der Route entsprechend leistungsstarke Säulen stehen. Faszinierend ist nicht die Spitzenleistung an sich, sondern wie lange diese gehalten werden kann. Der e-tron zieht bis zu einem SOC (für State of Charge, Ladestand der Batterie) von etwa 80 Prozent knapp 150 kW. Auch danach bricht die Ladeleistung nicht etwa ein: Bei SOC 99 Prozent waren es noch über 40 kW. Die Lüfter waren in keinem Fall zu hören; der e-tron war bei den sommerlichen Temperaturen und zügiger Fahrweise folglich noch lange nicht am Ende.

Störungen beim Laden, die dem Audi anzulasten waren, gab es im Testzeitraum nicht. Die Schwäche des e-tron ist die Schwäche der Infrastruktur. Wie es eigentlich sein soll und kann, beweist Tesla mit den Superchargern jeden Tag: Die DC-Ladeparks von Tesla werden im Navigationssystem angezeigt. Europaweit, weltweit. Der Routenplaner schlägt vor, wo man halten und laden könnte, wenn die Energie knapp wird. Am Supercharger angekommen genügt es, das Kabel in die Buchse zu stecken. Die Identifikation und Freischaltung erfolgt automatisch per Software. Was der Strom kostet, zeigt der zentrale Screen an. Abgerechnet wird in Kilowattstunden über die hinterlegte Kontoverbindung. Fertig. Vorbildlich. Einzig der starke Zuwachs an Autos könnte bald Sorgen bereiten – an manchen Superchargern ist die Nachfrage groß.

Die Schwächen der Nicht-Tesla-Infrastruktur

Die Realität der nicht an Hersteller gebundenen Infrastruktur bringt den Elektroautofahrer auch ans Ziel. Man kommt von A nach B. Es gibt aber zu viele kleine Mängel, die nicht nur die Käufer von Premiumautos verärgern. Ein Auszug: Eine DC-Säule war versteckt auf einem großen Gemeindegelände – Schnitzeljagd für Fortgeschrittene. Die nächste sollte 150 kW liefern, gab aber nur 30 kW her: Vorübergehende Drosselung wegen Softwareupdate. An einem 350 kW-Charger hingen der Testwagen und an der Nachbarsäule ein Hyundai Kona EV fest: Nach dem Einstöpseln war das Backend abgestürzt. Drei Anrufe und zwei Reboots später floss der Strom. Das ist anstrengend und es verunsichert. Und was der Strom kostet und ob er nach Kilowattstunden oder mit einer Einmalpauschale bezahlt wird, erfährt der Kunde häufig erst, wenn er am Monats- oder Quartalsende die Rechnung erhält.

Immerhin: Der Audi e-tron ist als eins der ersten Batterie-elektrischen Autos überhaupt ab 2020 „Plug& Charge“-fähig. Wie bei Tesla wären dann die automatische Identifikation, Freischaltung und Abrechnung möglich. Vorausgesetzt, dass alle Beteiligten mitmachen: Das Zusammenspiel von Autoherstellern, Ladesäulenbetreibern und Stromversorgern muss in jeder Hinsicht dringend perfektioniert werden. Hier herrscht großer Nachholbedarf.

Heise Autos hat aus Compliance-Gründen auf Audis Charging Service verzichtet und eigene Ladekarten von Plugsurfing, New Motion (inzwischen von Shell gekauft) sowie Maingau Energie benutzt. Irgendeine lief immer. Trotzdem liegt auf der Hand, dass die Lade-Infrastruktur zwar im Grundsatz einsatzbereit ist. Es wäre jedoch wenig verwunderlich, wenn es mit dem Markstart von Volkswagen ID.3, dem Opel e-Corsa und dem Honda e zu massiven Protesten durch ganz normale Menschen kommt, die anders als die Early Adopter nicht bereit sind, die genannten Mängel hinzunehmen.

Die Brennstoffzelle nicht vergessen

Audi wird sich dieser Einschränkungen bewusst sein. Den klassischen A6 TDI-Besitzer, der 30.000 oder 70.000 km im Jahr abreißt, wird man mit dem e-tron ohnehin nicht locken können. Angesichts des EU-Gewichts von 2.565 kg sieht sich Audi den Brennstoffzellen-elektrischen Nexo des Kooperationspartners Hyundai wahrscheinlich genau an. Mag die Energieeffizienz beim Fahren mit Wasserstoff schlechter sein, die Materialeffizienz ist besser und die Praxistauglichkeit auch.

Was die Käufer des Audi e-tron 55 quattro im Hier und Jetzt bekommen, ist ein exzellentes Batterie-elektrisches Auto: Geräuschniveau und Fahrwerksabstimmung, Haptik, Verarbeitungsqualität, Ladeleistung und Fahrautomatisierung sind Spitze. Wer will, kann mit dem e-tron auch einen Wohnwagen mit bis zu 1,8 Tonnen ziehen. Freiberufler und leitende Angestellte, die auf die 0,5-Prozentregelung aufmerksam geworden sind und Wert auf einen Hersteller mit Servicenetz legen, sollten den Audi e-tron zur Probe fahren. Nur Dauervielfahrer sollten sie nicht sein.

Erschienen bei heise Autos.

Bildquelle: Christoph M. Schwarzer

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