Das digitale Trampen

Trampen ist out. Menschen, die mit ausgestrecktem Daumen und dem Pappschild „Berlin“ an einem Autobahnrasthof stehen, sind selten. Eine Ursache dafür ist die Covid-Pandemie. Aber auch vorher war es keineswegs im Trend, per Anhalter zu pendeln oder zu reisen. Zum Beispiel wegen beidseitiger Sicherheitsbedenken. Klar ist, dass die Erhöhung des Besetzungsgrads im Auto, so der Fachbegriff, eine übersehene Chance ist. Fast nirgends lassen sich die CO2-Emissionen so kurzfristig und so simpel reduzieren. Inspiriert durch Initiativen in Frankreich wie Rezo Pouce gibt es jetzt außerdem den digitalen Daumen: Startups wollen das Mitfahren niederschwelliger und intelligenter machen.

Die Ausgangslage ist bekannt. In Deutschland sind über 48 Millionen Pkw zugelassen. Meistens ist die Fahrerin oder der Fahrer allein unterwegs. Der Besetzungsgrad liegt durchschnittlich irgendwo zwischen 1,1 Personen in der Rush-Hour und zwei Menschen am Sonntagnachmittag. Die CO2-Emissionen sinken radikal, sobald einer mehr im Auto sitzt. Das gilt auch für Elektroautos, die indirekt ebenfalls Kohlendioxid ausstoßen. Ein konventioneller Volkswagen Golf, der sechs Liter Superbenzin verbraucht, entlässt rund 140 Gramm CO2 pro Kilometer in die Atemluft – der Verbrauchsanstieg durch einen Mitfahrer mehr ist vernachlässigbar. Pro Kopf dagegen ist die CO2-Bilanz stark verbessert.

Für längere Strecken haben sich Mitfahrportale wie BlablaCar oder Fahrgemeinschaft.de etabliert. Das funktioniert, ist aber nicht besonders flexibel: Anbieter und Nachfrager müssen für eine bestimmte Route zueinanderfinden, sich verabreden und an einem vereinbarten Ort treffen.

Spontan, digital und sicher

Zu kompliziert, sagt Jan Loescher. Er ist einer der Gründer von RRive, einer App zum Carpooling. Die Pilotphase im Raum Koblenz soll demnächst starten. Ab Mitte des Jahres könnte das Produkt marktreif sein: „Wir fokussieren auf die alltäglichen Fahrten zum Supermarkt, zur Arbeit oder zum Sport. Unsere erste Zielgruppe sind die Speckgürtel, weil hier der Kontrast zwischen ÖPNV-Angebot und Autoverkehr am höchsten ist“, so Loescher.

Das Prinzip: Eine Autofahrerin oder ein Autofahrer starten die Navigation zu einem Ziel und bietet sich an. Wenn jetzt zeitgleich ein Mensch eine Mitfahrgelegenheit auf dieser Strecke sucht, kommt es zum Matching. Der Treffpunkt oder auch kleine Umwege werden automatisch berechnet.

Kostenfrei wird das Konzept von RRive nicht sein. Die vorläufige Buchungsgebühr beträgt einmalig einen Euro plus 25 Cent pro Kilometer, wovon der Pkw-Besitzer gut 20 Cent bekommen soll. So reduziert er die Kosten deutlich, ohne aber einen Gewinn zu erzielen. Das ist auch die Abgrenzung von gewerblichen Diensten wie Uber, und „nur in dieser Form ist das System auch nachhaltig“, erklärt Jan Loescher von RRive.

Wichtig ist dem Startup, die Sicherheit auf beiden Seiten zu garantieren. So muss der Anbieter sich in der App per Personalausweis identifizieren. Außerdem gibt es in der App für beiden Parteien einen Notfallbutton, mit dem sich das Alarm-Spektrum vom ungefragt Zigarette rauchenden Passagier bis zum Polizeiruf abdecken lässt.

Staatsförderung in Frankreich

In Frankreich fördert der Staat die bessere Auslastung von Autos durch das moderne Ridepooling: Wer seinen Pkw für Fahrgemeinschaften freigibt, bekommt 100 Euro. Jedenfalls dann, wenn das auch wirklich passiert: Für die erste Tour überweist der französische Staat 25 Euro und den Rest nach der zehnten.

Die Initiative bei unseren Nachbarn ist ein internationales Vorbild und berücksichtigt auch die Kommunen. Aus einem Budget von 50 Millionen Euro sollen unter anderem Haltepunkte P+M (für Parken und Mitnehmen) fürs Treffen definiert werden. Wenn das klappt, rechnet Frankreich mit einem Minus von einem Prozent bei den gesamten CO2-Gesamtemissionen im Land.

Kritische Masse notwendig

Ein Problem bei allen Konzepten ist eine kritische Masse von Teilnehmern. Je mehr Leute mitmachen, desto besser funktioniert das System. Bernd Sailer, Vorstand im Mitfahrverband und Ideengeber beim Portal Troodle, plädiert darum für eine Lösung, die möglichst viele Menschen erreicht und die besonders nah am Gedanken des digitalen Trampens ist.

Sailers Ansatz ist, dass der Autofahrer kein Bargeld bekommt und der Gast lediglich drei Cent pro Kilometer zahlt, um die Kosten einer Plattform zu decken: „Stattdessen sollte der Fahrer ein Incentive bekommen, also zum Beispiel einen Tankrabatt oder ein Ticket für den Zoo.“ Sein Argument: Beim klassischen Trampen wurde außer auf langen Strecken auch nichts gezahlt; es war selbstverständlicher Teil der Solidargemeinschaft, jemanden am Straßenrand mitzunehmen. Sailer ist überzeugt, dass die Bereitschaft der Bevölkerung zum Teilen weiter vorhanden ist und sich eine hohe Zahl von Teilnehmern motivieren lässt.

Während sich die deutsche Öffentlichkeit aufs 49-Euro-Ticket freut, bleibt die Fahrgemeinschaft als Mittel zur schnellen CO2-Reduktion ein blinder Fleck. Das Bundesverkehrsministerium (BMDV) teilt mit, dass bei uns keine Subventionen wie in Frankreich geplant sind. Allerdings gab es mehrfach geförderte Forschungsvorhaben wie etwa zum „Ridematching“ . Das bedeutet aber nicht, dass keine Änderung vorstellbar ist. Und es steht jedem Autofahrer frei, analog oder digital eine Fahrgemeinschaft zu organisieren. Sinnvoll ist das in jedem Fall.

Erschienen bei ZEIT ONLINE.

Bildquelle: Rezo Pouce

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Verwandte Beiträge

Beginne damit, deinen Suchbegriff oben einzugeben und drücke Enter für die Suche. Drücke ESC, um abzubrechen.

Zurück nach oben

Durch die weitere Nutzung der Seite stimmst du der Verwendung von Cookies zu. Weitere Informationen

Die Cookie-Einstellungen auf dieser Website sind auf "Cookies zulassen" eingestellt, um das beste Surferlebnis zu ermöglichen. Wenn du diese Website ohne Änderung der Cookie-Einstellungen verwendest oder auf "Akzeptieren" klickst, erklärst du sich damit einverstanden.

Schließen